Sühnetod Jesu
Thema Sühnetod Jesu:
Ein ausschließlich "solidarischer" Gott ändert nichts,
besiegt Sünde und Tod nicht
und wird zum bloßen Vertröster.
Von Klaus Berger / Die Tagespost.
In jüngster Zeit mehren sich auch im katholischen Lager Stimmen, die die
biblischen Aussagen über den Sühnetod Jesu kurzerhand abschaffen möchten.
Sühnetod heißt: Jesus ist zur Vergebung der Sünden gestorben.
Diese Lehre möchte man beseitigen, weil man ein grausames Gottesbild im
Hintergrund vermutet, weil man keinen Zugang mehr zu den Kategorien Sünde, Opfer
und Stellvertretung hat und vor allem, weil man von einer Gottesdefinition
ausgeht, wonach „Gott die Liebe ist“.
Und bei diesem Gottesbild sei für Blutvergießen und Gewalt kein Platz mehr – vor
allem nicht für einen Gott, der seinen Sohn ans Messer liefert. Zum Ersatz
bietet man daher an: Der Tod Jesu bedeutet, dass Gott mit uns geht, das mitträgt,
was Menschen verschuldet haben. Aus Solidarität erkläre Gott: So viel seid ihr
mir wert, dass ich mich mit euch solidarisiere in dieser betrüblichen Situation,
meinen Sohn in die Todesnot hineinlasse.
Die Konsequenzen der „Solidaritäts-Lösung“ liegen auf der Hand: Wer die
Glaubenslehre vom Sühnetod ablehnt, nimmt den Menschen die entscheidende
Befreiung, die das Christentum verkündet, nämlich die von Sünde, Tod und Teufel.
Ein nur solidarischer Gott ändert nichts und besiegt diese Mächte nicht. Wer den
Sühnetod Jesu streicht, leistet etwas wirklich Erschreckendes: Christentum wird
an entscheidender Stelle zu einer bloßen Vertröstung. Denn die Erklärung, auch
meine Sünden hätten Gott zu dieser Solidarität veranlasst, ändert doch nichts an
diesen Sünden.
Daher ist die zentrale Vorstellung, die hier abhanden gekommen ist, die, dass
Gott die Macht hat, Schuld aufzuheben. Diese Vorstellung wird nun wirklich in
der ganzen Bibel vorausgesetzt. Aber Sünden vergeben kann nur Gott (das sagen
auch Jesu Gegner in Mk 2).
So wie bei uns die Spitze der Gesetzgebung die Macht hat, Amnestie zu üben. Wer
das rundweg bestreitet, entthront Gott selbst und nimmt Jesus, der Sünden
vergibt, auf kaltem Wege die Gottessohnschaft.
In Gott nur den Tröster sehen? Das wäre zu wenig!
Die Deutung auf „Solidarität“ setzt zudem auf die gegenwärtige Psycho-Welle, die
sich bedauerlicherweise selbst von Gott nicht mehr versprechen kann als Tröstung
im Alleinsein. Der Bereich des Seins wird durch die Welt der Vorstellungen
ersetzt.
Doch nach der Bibel sühnt der Tod Jesu die Sünden, er deckt sie zu und hebt sie
auf. Bei einer bloßen Solidarität geschieht mit den Sünden gar nichts.
Solidarität ist im besten Fall eine moralische Haltung, die nichts ändert.
Doch nach der Bibel geht es nicht um Gottes „mit uns“, sondern um Jesu Christi,
des Sohnes Gottes Leben und Leiden „für uns“. Von Solidarität zu sprechen ist
nicht grundfalsch, aber diese Lehre erklärt nicht die Hälfte dessen, wovon die
Schrift redet – und das zu wissen und erklärt zu bekommen haben die Christen
einfach einen Anspruch.
Das Christentum übernimmt den blutigen Opferkult im Jerusalemer Tempel nicht;
und dieser wurde ohnehin im Jahre 70 n. Christus durch die Tempelzerstörung
beendet. Abgesehen davon sind jedoch eine ganze Reihe von „fremdartigen“ oder „archaischen“,
meinetwegen steinzeitlichen Anschauungen im Neuen Testament weiterhin in Kraft,
und zwar gerade auch zur Deutung des Todes Jesu.
Meine Absicht ist es, diese Anschauungen zu nennen, zu erklären und dem heutigen
Christen zu zeigen, dass sie zum Verständnis des Todes Jesu unerlässlich sind.
Denn so unverständlich sind diese Ansichten nicht, wenn man sie nicht gerade
leichtfertig „abschafft“, weil sie modernen Menschen nicht mehr „zumutbar“ seien.
Nicht nur an dieser Stelle haben Theologen haufenweise Schätze der Spiritualität
wegen angeblicher Nicht-mehr-Zumutbarkeit verschenkt.
Denn erhalten geblieben ist grundsätzlich die Vorstellung von Opfer. Paulus sagt
in Röm 12: „Gebt euer Leben, euch selbst, als Opfer, mit dem ihr Gott anerkennt.“
Der Hebräerbrief spricht vom Lobopfer und sagt: „Vergesst nicht, Gutes zu tun,
denn über solche Opfer freut sich Gott.“
Dabei handelt es sich nicht um einen „uneigentlichen“ Gebrauch der Rede vom
Opfer, sondern um einen erweiterten. Nur eine Art von Opfer gibt es nicht mehr:
eben blutige Tieropfer im Tempel. Aber ein Opfer ist weder notwendig blutig noch
gar sinnlos, sondern Opfer ist – nach neueren Untersuchungen (Chr. Eberhart)
jedes sichtbare Zeichen der Anerkennung Gottes. Deshalb ist auch Jesu Leben
inklusive Tod ein Opfer (gr. lytron), so etwa nach Mk 10, 45.
Und vom Opfer Jesu redet zum Beispiel ganz unbefangen der Hebräerbrief (10, 12):
„Jesus aber hat ein einziges Opfer für die Sünden dargebracht und sich für immer
an Gottes rechte Seite gesetzt, (...). Denn durch ein einziges Opfer hat er die,
die geheiligt werden, für immer zur Vollendung geführt. (...). An ihre Sünden
und Übertretungen denke ich nicht mehr.“
Erhalten geblieben ist die Kategorie der Stellvertretung. Sie ist eines der
grundlegenden Lebensgesetze des Gottesvolkes. Und sie bedeutet: Einer kann und
darf, und darüber freut sich Gott, für den anderen bei Gott etwas tun. Das
betrifft Beten, Fasten und – für einen begrenzten Zeitraum in Korinth – sogar
die Taufe.
Hier ist vor allem wichtig, dass der gekreuzigte und erhöhte Herr
stellvertretend für uns beim Vater eintritt (Römer 8; Hebr 7 und 9). Er bringt
in seiner Fürbitte das Verdienst seines Kreuzestodes vor Gott ins Spiel.
Ganz lebendig ist ferner die Bedeutung vergossenen Blutes. Dass Blut nach
biblischer Anschauung Leben bedeutet und eben deshalb striktes Eigentum Gottes
ist, bringen uns gerade Moslems und Juden wieder bei. Und der, der auf dem Blut
eines anderen liegt, gehört damit Gott (positiv wie negativ).
In den Sakramenten der Taufe und der Eucharistie wird das Blut Jesu Christi
sakramental durch Wasser beziehungsweise durch Wein dargestellt. Das Wasser
wäscht uns zum Zeichen, dass Christi Blut dies bewirkt, den Wein trinken die
Jünger zum Zeichen des Neuen Bundes, gestiftet durch Christi Blut.
So kann ich die Meinung betulicher Seelsorger nicht akzeptieren, die Menschen
verstünden angeblich die Bedeutung der Rede vom Blut nicht mehr. Es genügt nur
ein wenig Bibel- und Volkskunde. Und gerade für Jugendliche ist vieles höchst
interessant, was die Älteren für unvermittelbar halten.
Denn was das kultisch vergossene Blut angeht, da waren die Menschen stets
dankbar für dieses unverhältnismäßige Mittel, den verdienten Zorn der Götter zu
besänftigen. Gott wertet Jesu vergossenes Blut aus heidenchristlicher
Perspektive wie rituell vergossenes.
Es ist, wie wenn Gott zu den Christen sagt: „Nehmt es daher, so wie ihr es kennt,
als Zeichen dafür, dass nun alles gut ist. Zu eurer Beruhigung, ja als mein
Evangelium über den toten Christus biete ich euch an: Nehmt dieses Blut als
Zeichen der Versöhnung meinerseits.“ So ist diese Vergebung hier dadurch
eindrücklich geworden, dass sie an bekannte Zeichen anknüpft. Damit es die
Menschen besser verstehen.
So ist aus Gottes Vergebung hier eine „halbe“ kultische geworden, zwar mit Blut,
aber nicht im Tempel, zwar zur Sühne, aber nicht als gesetzlich vorgeschriebene
und im Ritual festgelegte, zwar grausam, aber nicht wegen des Zornes Gottes,
sondern wegen des Hasses der Menschen.
Aber dem Verlangen der Menschen nach Gewissheit kommt Gott dadurch entgegen,
dass sie die wesentlichen Zeichen erkennen können. So gelangen wir zu einer
Gewissheit, die alle frühere übersteigt. Früher konnten die Menschen, die um
Vergebung baten, nur darauf hoffen, dass Gott sie erhöre. Das ist jetzt anders:
Deshalb hat Jesus beim Abendmahl den neuen Bund gestiftet. Er hat gewissermaßen
notariell mit seinem Blut besiegelt, dass jetzt der neue Bund der
Sündenvergebung gilt. Und er hat nicht einfach die Menschen beten lassen,
sondern die Gewissheit der Erhörung in die Erde eingerammt, so wie das Kreuz auf
Golgotha steht, unübersehbar.
Die Rede vom Sündenbock ist glatter Unfug
So ist der Tod Jesu zumindest ein wirksames und nicht leeres Zeichen der
Vergebung der Sünden. Und lebendig ist schon in der Deutung durch Jesus selbst
(zum Beispiel Mk 10, 45) die Wirklichkeit des Sühnopfers. Und damit sind wir an
den Kern der notwendigen Kontroverse herangekommen.
Nebenbei bemerkt: Hier vom Sündenbock zu reden, das ist eine ganz unsinnige
Hypothese. Denn einmal ist Jesus kein Schaf, sodann wurde der Sündenbock nur
hinausgejagt, aber keineswegs getötet; wenn der Bock weit genug gerannt war,
wird er, wenn er halbwegs clever war, abends zu seinem gewohnten Stall
zurückgekehrt sein. Nein, um dieses Ritual geht es bei Jesus ganz und gar nicht.
Um es klar zu sagen: Jesus sühnt mit dem Opfer seines Lebens, und zwar seines
ganzen Lebens, inklusive Tod. So sagt es Paulus in Philipper 2: „gehorsam bis
zum Tod am Kreuz“. Diese Deutung des Todes Jesu ist nicht am Tempelkult
orientiert; dort sind seit Abraham und Isaak Menschenopfer verboten.
Diese Sühne konkurriert jeder im Tempelkult möglichen. Aber diese Anschauung ist
im zeitgenössischen Judentum und besonders im Neuen Testament breit belegt. Die
Grundlage ist: Jesus leistet wirkliche Sühne, und er ist dazu vom Vater in die
Welt gesandt.
Und Sühne heißt hier: Zudecken und Aufheben aller Schuld und Ungerechtigkeit,
die Menschen begangen haben, wenn sie nur an Jesus glauben, konkreter gesagt:
ihn zu ihrem Anwalt und Stellvertreter vor Gott „bestellen“. „Ich glaube an
Jesus“ heißt, im modernen Bild gesagt: „Ich gebe dir die Vollmacht, dass du mein
Anwalt vor Gott bist.“
Dass es um das ganze Leben Jesu geht, muss in der Diskussion besonders
unterstrichen werden, denn man hatte es lange vergessen. Wir haben schon
Philipper 2, 6 zitiert „gehorsam bis zum Tod am Kreuz“, und derselbe Apostel
Paulus wird in Röm 5, 19 genau diesen Gehorsam als stellvertretende Leistung
werten: „Durch den Ungehorsam des einen wurden alle anderen zu Sündern, durch
den Gehorsam des anderen wurden alle zu Gerechten.“ Beschrieben wird hier die
Stellvertretung durch Leben und Sterben Jesu Christi.
Weiterführend ist Hebräerbrief 10: „Deswegen sagt Jesus beim Einzug in die Welt
mit den Worten des Psalms: ,Du wolltest nicht, dass ich dir Opfer und Brandopfer
bringe. Vielmehr hast du mir einen Leib bereitet, mit dem ich dir dienen kann.
Brandopfer für die Sünden der Menschen heißt du nicht gut. Ich sagte: ,Ich komme,
um deinen Willen, Gott, zu tun.‘“
Dann wird Jesus das Psalmwort in den Mund gelegt: „Ich komme, um deinen Willen
zu tun.“ „Damit hebt er die Verpflichtung zu Brandopfer und Sündopfer auf und
bekräftigt umso mehr die Bereitschaft, Gottes Willen zu tun. Durch diese
Bereitschaft sind wir ein für allemal heilig gemacht worden, dadurch dass Jesus
seinen Leib, also sein ganzes Leben, Gott dargebracht hat.“
„Brandopfer“ von Tieren – das wären Sühnopfer im Tempel. Aber der zitierte Psalm
40 nennt ganz klar die Alternative. Das Opfer Jesu ist sein ganzes Leben, in dem
er Gottes Willen tut. Wie immer im biblischen Denken wird der Sinn am Ende
überdeutlich erkennbar. Und Hebr 10 leistet auch die Verbindung mit der
Inkarnation!
Im Judentum kennt diese Sühne-Vorstellung zum Beispiel Philo von Alexandrien:
Der Weise ist Sühne für den Schlechten. Ebenso die Gemeinschaftsregel von
Qumran: Die zwölf Gerechten sind „Sühne für Israel“, und zwar durch ihr ganzes
Leben. Also konnten die frühchristlichen Autoren mit ihrer Deutung des Todes
Jesu auf Verstehen bei den Lesern hoffen.
Aber setzt nicht der Sühnetod Jesu ein grausames Gottesbild voraus? Doch: Wer
ist denn hier grausam? Grausam sind im Vordergrund des Geschehens die Römer, die
Jesus töten, im Hintergrund die Menschen, die auf die Wohltaten der Schöpfung
mit Hass auf Gott reagieren.
Aber hat Gott nicht ahnen können, allwissend wie er ist, was mit Jesus geschehen
werde? Ob Gott diese Ahnungen hatte, das zu sagen überschreitet die Kompetenz
des Theologen, und alle „all“-Formeln über Gottes Eigenschaften erschweren eher
den Glauben, als dass sie ihm helfen könnten. Und selbst wenn Gott alles genau
vorher hat ahnen wollen – es ist nicht seine Art, Freiheit und
Verantwortlichkeit der Menschen zu behindern.
Aber es gibt noch eine andere, eine dogmatische Front, Theologen, die uns
erklären, „nur so“ habe Gott vergeben können, Gott habe seinen Sohn senden
müssen, da nur so seine Ehre habe wiederhergestellt werden können. So postuliert
man Sachzwänge, in denen Gott gestanden habe. Doch wie will ich als kleiner
Mensch Zwänge, Notwendigkeiten rekonstruieren, die angeblich für Gott galten?
Vor allem spricht die Bibel an verschiedensten Stellen ohne Bedenken davon, dass
Gott um Vergebung der Sünden gebeten wird (Psalmen) und diese auch gewährt, ohne
dass an das Kreuz Jesu gedacht wäre. Johannes der Täufer spendet eine Taufe „zur
Vergebung der Sünden“, und das sind nicht leere Worte.
Jesus selbst vergibt Sünden (Mk 2), ohne seinen Kreuzestod zu erwähnen, und in
diesem Sinne spricht er auch davon, dass er der Sünderin viel vergibt, weil sie
viel geliebt hat. Gott ist jederzeit frei, wirklich zu vergeben, wann und wem er
will.
Gott hat jederzeit die Wahl, aber die Menschen nicht
Aber alles das schließt den Sühnetod Jesu zur Vergebung der Sünden nicht aus.
Denn unter allen Wegen, auf denen Gott Sünden vergeben könnte, ist dieser der
gewisseste. So wie es viele Wege gibt, aus Seenot gerettet zu werden. Einige
können gut schwimmen, andere benutzen eine Planke, auf der sie treiben, andere
erreichen ein kleines Boot.
Der sicherste Weg und mit der wenigsten Angst verbunden ist ein kräftiges Schiff,
das einen aufnimmt. Gott hat jederzeit die Wahl, aber in der Regel die Menschen
nicht.
Das Nächstliegende für uns ist die Klarheit des Evangeliums. Und Jesus selbst
spricht beim letzten Mahl die Deuteworte zum Kelch: „Der Wein in diesem Becher
stiftet, wenn ihr alle daraus trinkt, den Neuen Bund zur Vergebung der Sünden.“
Das ist mehr als nur Hoffnung, mehr als Tröstung, es ist etwas juristisch
Stabiles, ein Bund.
Ich fasse die hier vertretene Position zusammen: Jesu Opfertod ist Sühne für die
Sünden der Menschen. Durch Jesu Blut sind wir erlöst von aller Schuld. Jesu Tod
ist nicht im Sinne des Tempel-Rituals zu begreifen, sondern eine Konkurrenz dazu.
Er ist Spitze und Gesamtausdruck des Opferlebens Jesu. Gott schickt seinen Sohn
in die Welt, damit er durch ein Leben in Gerechtigkeit eine für die Menschen
erkennbare, fassbare und beruhigende Sühne leiste für allen Ungehorsam. Diese
Befreiung von der Sünde wird nicht automatisch „allen“ zuteil, sondern den „vielen“,
die glauben, das heißt Jesus als ihren Anwalt vor Gott anerkennen.