Atheismus kann heute viele Menschen buchstäblich das Leben kosten
'Atheismus kann heute viele Menschen buchstäblich das Leben kosten'
Predigt zum Hochfest Allerheiligen im Hohen Dom zu
Köln am 1. November 2009 von Erzbischof Joachim Kardinal Meisner.
Liebe Schwestern, liebe Brüder!
1. Als ehemaliger DDR-Bürger habe ich
das Allerheiligenfest immer als das große Siegesfest über den so genannten
wissenschaftlichen Atheismus erfahren. Mit der Verzierung „wissenschaftlich“
hat man den Menschen weismachen wollen, dass mit dem Tode alles aus ist,
dass es keinen Gott gibt und deswegen auch nicht Wahrheit oder Lüge, Gut
oder Böse. Das seien alles nur Etiketten und Festlegungen der herrschenden
Klasse.
Ich hätte gar nicht gedacht, dass dieser Unsinn von damals
heute wieder Auferstehung feiert, indem der Mensch und seine Welt wieder wie
damals auf das quantitativ Messbare reduziert und gleichsam in das Gefängnis
der Quantitäten eingesperrt werden. Dass dabei der Mensch auf der Strecke
bleibt, damals wie heute, scheint raffiniert verdrängt zu werden. Das hat
zur Folge, dass der Mensch außerhalb seiner Berechnungen und Planungen keine
tragende Realität und moralische Instanz mehr kennt. So abgeschnitten von
allen geistigen und religiösen Wurzeln, verliert die so genannte
wissenschaftliche Vernunft das Korrektiv für sein Denken und Handeln.
Wie Walter Ulbricht damals hat man auch heute aus dieser so genannten
wissenschaftlichen Erkenntnis neue Zehn Gebote formuliert, die da heißen:
„Du sollst nicht glauben! Du sollst dir kein Selbstbildnis machen und es
Gott nennen! Du sollst keine Götter neben dir dulden! Du sollst keinen
Schöpfer haben! Du sollst deine Kinder ehren und sie deshalb mit Gott in
Frieden lassen! Sei auch gut ohne Gott! Du sollst keine Götter neben der
Wissenschaft haben! Liebe deinen Nächsten ohne schlechtes Gewissen! Du
sollst den Sabbat nicht ehren! Du sollst als Schöpfer nicht knien!“ – Das
ist ein Horrorszenarium! „Du sollst keine Götter neben der Wissenschaft
haben“, das heißt: Es gibt nur einen einzigen Gott oder Götzen, das ist die
so genannte Wissenschaft.
Was wird uns denn eigentlich hier angetan?
Als rein technisches Denken wird das Können des Menschen zum Maßstab seines
Handelns. Ein von seinem Können abgetrenntes „Dürfen“ gibt es nicht mehr.
Papst Benedikt XVI. schrieb: „So kann der Mensch den Menschen klonen.
Also tut er es. – Das verlangt, wie es scheint, seine Freiheit“. Der vom
Menschen selbst geschaffene Mensch trete nicht mehr als ein Geschenk des
Schöpfers in die Welt, sondern als Produkt unseres Machens, das nach selbst
gewählten Bedürfnissen selektiert werden könne.
Über diesem Menschen
leuchte nicht mehr der Glanz der Gottesebenbildlichkeit, der ihm seine Würde
und Unantastbarkeit gebe, sondern nur noch die Macht menschlichen Könnens.
Das System des Nationalsozialismus und des Kommunismus im vergangenen
Jahrhundert hat uns gezeigt, wohin das führt: Nicht zu mehr Glück und
Freiheit des Menschen, sondern an den Rand des Abgrunds, in letzter
Konsequenz zur Abschaffung des Menschen. Dafür stehen die KZ’s und Gulags.
Als wir bei unserer Stadtmission in der Pfingstwoche in Düsseldorf auf
die Straßen gingen, begegnete uns ein Atheistenbus, der durch die Städte der
Bundesrepublik fuhr und auf dem zu lesen war: „Es gibt wahrscheinlich keinen
Gott. Also hört auf, euch Sorgen zu machen, und genießt euer Leben“.
2. Gerade der Gottesglaube und das Bewusstsein des Menschen als Geschöpf
Gottes „entsorgt“ und entlastet ihn und schenkt ihm Freude am Leben und
große Widerstandsfähigkeit in den Bedrängnissen des Daseins. Wir feiern
Allerheiligen unsere Gegenwart und Zukunft. Der Apostel sagt es uns
ausdrücklich: „Ihr seid Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes“ (Eph
2,19). Das gibt uns eine Würde und eine Bedeutung, die der Mensch sich nicht
selbst zu geben vermag. Ich kann mich noch sehr gut an ein Gespräch mit dem
damaligen Staatssekretär für Kirchenfragen in der DDR, Klaus Gysi, erinnern,
das ich einige Male im Jahr als Vorsitzender der Berliner Bischofskonferenz
zu führen hatte.
Dabei gestand er mir, dass die Religion doch nicht
so schnell abstirbt, wie man das eigentlich in der so genannten
sozialistischen Wissenschaft vorausberechnet hatte. Darum müsse der
wissenschaftliche Sozialismus durch eine einschränkende Kirchenpolitik
versuchen, dieses Absterben zu beschleunigen. Er gestand mir weiter, dass
wohl am Ende nur die katholische Kirche und der wissenschaftliche
Sozialismus übrig bleiben würden, und dann geschehe der Endkampf als
Zweitkampf. Meine freimütige Antwort lautete damals: „Die Kirche wird das
Osterhalleluja noch singen, wenn der wissenschaftliche Atheismus vielleicht
nur noch in den Geschichtsbüchern als Relikt menschlicher Verirrung vermerkt
wird“.
Nun aber feiert dieser so genannte wissenschaftliche Atheismus
fröhliche Auferstehung. Hoffentlich durchschauen die Menschen diesen uralten
Dreh, mit dem sie den Gottesglauben verlieren sollen. Es sei nochmals daran
erinnert, dass solche Unternehmungen keine harmlosen Experimente einiger
Leute sind! Wie damals, so kann das auch heute viele Menschen buchstäblich
das Leben kosten.
Der positivistische Materialismus und
Evolutionismus der neuen Atheisten möchte – zusammen mit dem Glauben an Gott
– auch die christliche Sicht des Menschen als Ebenbild Gottes und
vernunftbegabte moralische Person ausmerzen. Auf dieser Grundlage muss
jedoch auf eine substanzielle Begründung der Menschenrechte und der
Menschenwürde verzichtet werden. Die Personalität des Menschen steht und
fällt mit seiner Wahrheitsfähigkeit und Freiheit, die sittliches Handeln
erst ermöglichen. Diese wird heute aber gerade von ideologisierten
Biophysikern, Hirnforschern und Evolutionisten infrage gestellt.
Ähnlich wie einst die Nationalsozialisten im einzelnen Menschen primär nur
den Träger des Erbgutes seiner Rasse sahen, definiert auch der Vorreiter der
neuen Gottlosen, der Engländer Richard Dawkins, den Menschen als „Verpackung
der allein wichtigen Gene“, deren Erhaltung der vorrangige Zweck unseres
Daseins sei.
Seinem australischen Mitstreiter Peter Singer ist ein
Schwein oder Affe wertvoller als ein hilfloses Baby oder ein altersschwacher
Mensch, welche prinzipiell getötet oder dem Zugriff der Forschung verfügbar
gemacht werden dürfen, wenn nicht Interessen Angehöriger entgegenstünden.
Das ist keine Horrormalerei, die hier vorgenommen wird, sondern das ist eine
schaurige Gegenwart, die die so genannten atheistischen Wissenschaftler
heraufbeschworen haben. Die Leugnung der transzendenten Dimension des
Menschen als Ebenbild Gottes und damit als moralische Person, welche die
Würde des Menschen als Zweck an sich begründet, hat zur Selbstermächtigung
mancher solcher Forscher geführt, nicht nur über das Menschsein menschlicher
Wesen zu befinden, sondern den Menschen genetisch zu verbessern oder ganz
und gar neu zu konstruieren.
Diesen Naturwissenschaftlern kann man
nur dringend raten: „Schuster, bleib bei deinen Leisten!“ Sie haben
Kompetenz im Labor, aber für die übrige Weltwirklichkeit sind sie nicht
speziell zuständig, etwa um neue Zehn Gebote zu definieren. Man bedenke: Nur
wenige Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft frohlockte der damals
renommierte Erbforscher Hermann Müller: „Wir sind auf dem Gebiet der Genetik
schon so weit, dass die methodische Züchtung einer neuen Menschenrasse kein
Problem mehr ist.
Es erscheint möglich, in zwei Generationen eine
Herrenrasse zu zeugen, die den Rest der Welt aufgrund ihrer körperlichen und
geistigen Überlegenheit unterwerfen kann“. Auf diesem Hintergrund ist die
Aktualität des Allerheiligenfestes gar nicht zu überzeichnen. Es ist
schrecklich, wenn der Mensch in die Hände der Menschen fällt und nicht mehr
um die barmherzigen Hände Gottes weiß, die ihn ins Dasein gerufen haben, die
ihn tragen und die ihn vollenden werden.
3. Der berühmte jüdische
Dichter Franz Werfel hat ein interessantes Buch geschrieben mit dem Titel:
„Der veruntreute Himmel“. Das ist nicht nur ein interessanter Buchtitel, das
ist auch eine bittere Realität, die tiefe Furchen in unsere Erde gegraben
hat. Aus dem veruntreuten Himmel kommt die veruntreute Erde. Das Ergebnis
der veruntreuten Erde ist der veruntreute Mensch. Das Allerheiligenfest ist
die große Gegenbewegung der Kirche gegen den veruntreuten Himmel, um der
Erde und des Menschen willen. Heute sehen wir gleichsam den Himmel offen.
Vor uns stehen die Heiligen als Ziel unseres Lebens. Damit bekommen wir
festen Boden unter die Füße. Der Mensch braucht Ewigkeit. Denn jede andere
Hoffnung ist für ihn zu kurz. Es ist nicht wahr, dass die Ewigkeit ihm die
Zeit stiehlt, sie entleert oder unwichtig macht. Ganz im Gegenteil!
Erst die Ewigkeit gibt dem Menschen die nötige Zeit. Wenn es wahr ist, und
es ist wahr, dass mit dem Tode nicht alles aus ist, dann bekomme ich
plötzlich Zeit, dann brauche ich nicht durch die kurze Spanne des Lebens
nach der Devise zu eilen: „Was du bist zum Tode nicht erjagt hast, das
gewinnst du nie!“. Wenn aber der Tod des Menschen würdelos ist, dann ist
auch sein Leben würdelos. Wo der Mensch im Tode weggeworfen und zum Abfall
wird, dort wird er dann wie Müll entsorgt, und damit gehört der Mensch zu
dem, was man wegwerfen kann und mit dem man dies auch schon vor seinem Tode
tun darf. Wenn aber der Mensch niemals Abfall wird, wenn die Ewigkeit sein
Wert ist, dann gilt dieser Wert immer und überall, dann bestimmt er unser
ganzes Leben.
Der veruntreute Himmel ist die entscheidende Krankheit
des Menschen. Der betreute Himmel ist die einzige Rettung und Erlösung des
Menschen. Die Kirche hat gerade in der gegenwärtigen Situation der Welt
keine menschenfreundlichere Gabe zu geben als das Allerheiligenfest. Hier
bekommt der Mensch Wert und Würde als Geschöpf Gottes und als Schwester und
Bruder des Gottmenschen Jesus Christus und als Tempel des Heiligen Geistes.
Allerheiligen ist das Fest des katholischen Selbst- und Siegesbewusstseins:
Wir sind wer – Mitbürger der Heiligen, Hausgenossen Gottes mit Bürgerrecht
auf das himmlische Jerusalem. Amen.
+ Joachim Kardinal Meisner
Erzbischof von Köln