Das bessere liturgische Prinzip
"Christi Blut, vergossen für die vielen" – Zur Debatte um eine Revision der
Übersetzung der Wandlungsworte im Missale Romanum - Von Bischof Gerhard Ludwig
Müller / Die Tagespost Oktober 2010
Mit der Einführung der Landessprachen in der Liturgie stellte sich die Frage
nach der authentischen Übersetzung der normativen Texte des lateinischen Ritus
in der nach den Grundsätzen der Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanums auf
den Weg gebrachten „Erneuerung der Liturgie“ (SC 3). Die in der Liturgie
gebrauchte muttersprachliche Übersetzung des lateinischen Textes muss von der
zuständigen Autorität approbiert und vom Apostolischen Stuhl gebilligt (rekognosziert)
werden (vgl. Liturgiekonstitution SC 36) Nachdem sich schon eine über
vierzigjährige Tradition einer deutschen Liturgiesprache herausgebildet hat,
bedarf es lediglich einer Revision der bisherigen Übersetzung und einer
sensiblen Anpassung an die Letztausgabe des Missale und Rituale Romanum. Im
Deutschen unschön oder unverständlich wirkende Latinismen sind ebenso zu
vermeiden wie die Unsingbarkeit einzelner wortwörtlich übertragener Begriffe,
die ohne Entstellung des Sinnes ergänzt oder zusammengezogen werden dürfen.
Für die authentische Übersetzung der Liturgie ist die Kenntnis von Philologen
der hebräischen, griechischen, lateinischen und deutschen Sprache ebenso
erforderlich wie die theologisch kompetente Beratung aus der Exegese, Patristik,
Dogmatik und Pastoral. Aber die Letztverantwortung kommt dem Papst und den
Bischöfen des jeweiligen Sprachgebietes zu.
Wenn wir in der Liturgie in „unserer Sprache“ die „Großtaten Gottes“ (Apg 2, 11)
verkünden, dann bekennen wir den Glauben an die Offenbarung Gottes, nämlich
Jesus Christus, das fleischgewordene WORT, durch den wir im Heiligen Geist zu
Gott „Abba“, Vater, sagen (Röm 8, 15; Gal 4, 6). Hier kommt zum Vorschein das
Grundgesetz der liturgischen Sprache als Gotteswort im Menschenmund (1 Thess),
der Gottesverherrlichung in der Heilserfahrung des Menschen (Irenäus von Lyon).
Mit der alten Kurzformel des Zusammenhangs zwischen Liturgie und Dogma heißt es:
Lex orandi – Lex credendi – die Ordnung des Betens ist die Ordnung des Glaubens
und umgekehrt. Man könnte auch sagen: „Wir werden gerettet durch das Evangelium,
wenn wir am Wortlaut (logos) der Verkündigung des Glaubens festhalten“, den uns
die Apostel überliefert und vorgelegt haben (vgl. 1 Kor 15, 2).
Äußerste Aufmerksamkeit ist erfordert, wenn es sich bei den heiligen Sakramenten
um die „Substanz der Sakramente“ (Trient, DH 1728) handelt, die vom Lehramt der
Kirche treu zu bewahren ist. Denn das Recht, die heilige Liturgie zu ordnen,
steht einzig der Autorität der Kirche zu, die beim Papst und nach Maßgabe des
Rechtes beim Bischof liegt (vgl. SC 22 § 1). Unter treuer Bewahrung des
Geheimnisses der Eucharistie ist in der Liturgie von der kirchlichen Autorität
aus der vierfach bezeugten Sprachgestalt der Einsetzungsworte Jesu (Mt/Mk und Lk/
Paulus) das Konsekrationswort über Brot und Wein geformt worden, wie wir es im
lateinischen Ritus seit den frühesten Anfängen kennen und das so im Mysterium
des Betens von der Kirche verkündet wird. Ist in der Heiligen Schrift das
Spendewort aus dem Munde Christi selbst überliefert, ist der Wortlaut
unmittelbar verpflichtend wie bei der trinitarischen Taufformel (Mt 28, 19f).
Bei der Revision des Deutschen Missale aufgrund Editio typica tertia von 2002
ist die nicht leicht zu lösende Frage aufgetaucht, wie beim Kelchwort das pro
multis effundetur im Deutschen wiederzugeben sei. Es besteht die Alternative
einer wortwörtlichen Übersetzung „für viele“ oder der interpretativen
Übersetzung „ für alle“. Für beide Möglichkeiten kann man gewichtige Gründe
vorlegen.
Zum einen erscheint es problematisch, ein biblisch bezeugtes Wort Jesu
abzuwandeln, indem man ihm einen vielleicht nur von uns gewünschten Sinn
unterlegt. Zum anderen gilt es, ein Missverständnis von Seiten der Gläubigen zu
vermeiden, als ob mit der Hingabe Jesu für die Vielen nur ein begrenzter Teil
der Menschheit gemeint sei. Schon die Heilige Schrift selbst gibt die
authentische, im Wort Gottes selbst begründete, Auslegung des Kreuzesopfers
Christi „des Menschensohnes, der sein Leben als Lösepreis für die Vielen hingibt“
(Mk 10, 45).
Denn bei dem Terminus „für viele“ handelt es sich um eine Wahrheit, die tief
verwurzelt ist im Heilsplan Gottes, der will, dass durch Jesus Christus, den
einen Mittler zwischen Gott und den Menschen, alle Menschen gerettet und zur
Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim 2, 4f). Das Blut des Bundes wird von
Mose über den Altar und über das ganze Bundesvolk ausgegossen (Ex 24, 8), das
als endzeitliches Gottesvolk in Christus wie der eine Leib aus den vielen
Gliedern besteht (1 Kor 12, 12). Nimmt man die Aussage vom stellvertretenden
Sühneleiden des Gottesknechtes aus Jesaja 53 hinzu, dann erschließt sich das
Geheimnis des Blutes Christi als die Versöhnung der vielen Glieder des einen
Leibes Christi und als die Erlösung aller durch den einen und einzigen Mittler
zwischen Gott und den Menschen (1 Tim 2, 5), Christus, das Haupt der Kirche und
der ganzen Schöpfung. Da alle Menschen (Juden und Heiden) die Herrlichkeit
Gottes verloren haben aufgrund der Sünde des einen Adam, empfangen alle durch
den einen Christus Gnade und ewiges Leben (Röm 3, 23ff).
Wie hier die vielen Menschen im Hinblick auf den einen Erlöser als die
Gesamtheit der Menschen erscheinen, zeigt uns der Apostel Paulus, wenn er sagt:
„Wie es also durch die Übertretung eines einzigen (Adam) für alle Menschen zur
Verurteilung kam, so wird es auch durch die gerechte Tat eines einzigen (Christus)
für alle Menschen zur Gerechtsprechung kommen, die Leben gibt. Wie durch den
Ungehorsam des einen Menschen die Vielen zu Sündern wurden, so werden durch den
Gehorsam des einen die Vielen zu Gerechten gemacht“ (Röm 5, 18–19). Die Vielen
werden in Christus zur Ganzheit der erlösungsbedürftigen und erlösten Menschheit
zusammengefügt.
Somit ist nach dem biblischen Zeugnis und der verbindlichen Lehre der Kirche
eine Interpretation „für viele“ als Einschränkung der Erlösung auf die Zahl der
zum Heil Prädestinierten (Calvinismus, Jansenismus, vgl. DH 2005) ebenso
ausgeschlossen wie die Meinung, unabhängig vom Glauben und einem Leben in der
Nachfolge Christi gebe die Botschaft von der universalen Erlösung in Christus
schon die Garantie, dass jeder ihr Ziel, nämlich das ewige Leben (im Himmel)
auch erreiche. Denn die Versöhnung aller in Christus durch sein Blut wird nur
wirksam im Glauben und in der Liebe (Röm 3, 28, 5, 5; Gal 5, 6). Und auch denen,
die ohne eigene Schuld Christus nicht kennen und doch dem Anruf Gottes in ihrem
Gewissen folgen (vgl. LG 14), gilt der Heilswille Gottes. Falls sie am Ende
gerettet werden, wurden sie durch die gratia Christi gerettet und nicht an Jesus
vorbei aufgrund ihrer eigenen Werke.
Trotz dieser klaren schriftimmanenten Auslegung der Hingabe Jesu am Kreuz „für
das Leben der Welt“ (Joh 6, 51), als Sühne für unsere Sünden und die der ganzen
Welt (1 Joh 2, 2), als Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt (Joh 1,
29) – bleibt aber die Frage berechtigt, warum die Evangelisten Matthäus und
Markus das Kelchwort wörtlich im Griechischen wiedergegeben haben und nicht aus
der aramäischen Version Jesu und den hebräischen Bezugsworten im Alten Testament
(Ex 24, 8; Jes 53, 8) übersetzt haben. Für die Lateinische Liturgie ist immer
die wörtliche Wiedergabe maßgeblich gewesen. In der Verkündigung und in der
Katechese wie auch bei der Abwehr von Irrtümern in der Soteriologie und der
Gnadenlehre bezog man sich auf das biblische Zeugnis und auf seine verbindliche
Auslegung durch das Lehramt. Es ist aber eine interpretierende Übersetzung des
Wortlautes der Konsekration stets vermieden worden.
So war zwar die Übersetzung „für viele“ mit „für alle“ vor vierzig Jahren
dogmatisch nicht falsch, blieb aber exegetisch-liturgisch immer mit Zweifel und
Unbehagen behaftet. Es ist berechtigt zu fragen, ob man bei den Anfängen der
Entwicklung einer deutschen Liturgiesprache nicht übers Ziel hinausgegangen ist.
Jedem Exegeten ist klar, das man bei der Übersetzung des Alten und Neuen
Testaments und besonders, wo es sich um Worte Jesu (ipsissima verba) handelt, im
Zeugnis des biblischen Urtextes am Wortlaut entlang übersetzen muss, auch wenn
es für den heutigen Leser zunächst befremdend wirkt. Und dass man die Erklärung
von Passagen, die dem heutigen Hörer und Leser zunächst merkwürdig erscheinen,
in die Erklärung der Schrift (Exegese, Katechese) hinein verlegen muss. An
dieser Wegscheide hat der Apostolische Stuhl die ihm allein zukommende
Entscheidung getroffen, die für alle Übersetzungen des Ordo missae verbindlich
ist: Der wörtlichen Übersetzung ist der Vorzug zu geben vor der interpretativen
Übersetzung.
Es wird auch der gute Vorschlag zu prüfen sein, ob man um der Einheit des
lateinischen Ritus willen, die Konsekrationsworte, die Epiklese und das
Darbringungsgebet nicht weltweit wieder in Latein beten soll. Die Waagschale hat
sich am Ende zur wörtlichen Übersetzung geneigt, weil die Worte Jesu im
Abendmahlsaal, wie sie uns authentisch vermittelt sind in der Heiligen Schrift,
die Einheit von Wort-Laut und Wort-Sinn verbürgen, weil Christus selbst der
Logos ist, das eine fleischgewordene Wort, das sich selbst auslegt in den „Worten
des ewigen Lebens“ (Joh 6, 62.68).
Nachdem die verbindliche Entscheidung gefallen ist, die sich bei einem
sorgfältigen Abwägen der Argumente als die inhaltlich richtige und bessere
erweist, muss alle Verantwortung der Bischöfe darauf hinzielen, bei den
Priestern und Gläubigen Verständnis und Einverständnis zu fördern.
Wenn wir die heiligen Worte des Herrn hören, wenn er sagt, „Das ist mein Blut,
das für euch und die Vielen vergossen wird“, dann kann dies keine Verwirrung
hervorrufen. Es entsteht vielmehr der Wunsch, dieses Geheimnis der göttlichen
Liebe tiefer zu verstehen im Lichte des ganzen Wortes Gottes und seiner
Auslegung im Glaubensbekenntnis der Kirche.
Für eine wortgetreue Übersetzung stehen im Deutschen die beiden Möglichkeiten
zur Verfügung, indem das pro multis mit oder ohne Artikel gesprochen wird.
Hier ist wohl „für die Vielen“ vorzuziehen: „Mein Knecht, der gerechte, macht
die Vielen gerecht“ (vgl. Jes 53, 11). Denn dadurch wird der Eindruck vermieden,
es handle sich hier um eine quantitative Beziehung von „vielen“ und „wenigen“.
Es geht aber vielmehr um die qualitative Beziehung des einen Mittlers zu den
vielen Gliedern des Gottesvolkes und der ganzen Menschheit. Bei dem Text „für
die Vielen“ kann man auch im Deutschen die Theologie der Stellvertretung und des
stellvertretenden Sühneopfers (Röm 3, 38) erkennen, indem der eine Mittler in
Bezug steht zu der Vielheit der Menschen, für die er sich hingibt. Denn Christus
als Haupt der Kirche will die Menschheit in die Einheit seines Leibes
zusammenführen, um die ganze Schöpfung, „in ihm, der als Haupt alles überragt“,
geeint dem Vater zu übergeben, (vgl. Kol 1, 12–20; Eph 1, 22f.). Die
sakramentale Kirche als corpus Christi ist „Zeichen und Werkzeug für die
innigste Vereinigung der Menschen mit Gott wie für die Einheit der ganzen
Menschheit“ (vgl. LG 1).
In dem sprachlich ungewohnten und aufmerksam machenden Ausdruck „der eine für
die Vielen“ sieht der gläubige Christ eine Stufe, über die er nicht stürzt,
sondern die uns geistlich mit Christus hinaufführt auf den Kalvarienberg. Mit
dem Herzen Jesu, der einsam und verlassen am Kreuze hängt, schauen wir auf die
vielen Menschen, die von Gott geschaffen und von seinem Heilsplan umfangen sind.
Die Menschen werden aus der zerfallenden Vielzahl zu einer organischen Einheit
zusammengeführt. „Die Vielen“ sind die Glieder des ganzen Christus, Haupt und
Leib, mit der Mission der Kirche, der ganzen Menschheit, Tod und Auferstehung
Christi zu verkünden bis er kommt in Herrlichkeit (vgl. Eph 3, 10f): „Denn wie
der Leib eine Einheit ist, doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber,
obgleich es viele sind, einen einzigen Leib bilden: So ist es auch mit Christus“
(1 Kor 12, 12).
Wie viele stehen unter dem Kreuz? Wie viele verraten und verleugnen ihn? Welcher
Spott und welche Verachtung schlagen dem Schmerzensmann entgegen? Wie viel
Arroganz und Ignoranz muss nicht die Liebe und Wahrheit des gekreuzigten und
auferstandenen Herrn erlösen und vom Zwang zur Gottlosigkeit und Bosheit
befreien (Röm 1, 18ff.)? Erst wenn der Herr am Kreuz erhöht ist und wir mit ihm,
wird er alle an sich ziehen und „allen Stämmen und Sprachen, allen Nationen und
Völkern“ (Offb 5, 9) die Erlösung zuwenden. Denn „Gott hat die Welt so sehr
geliebt hat, dass er seinen Sohn gesandt hat, damit jeder, der an ihn glaubt
nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.“ (Joh 3, 16).
Wenn nun das bessere liturgische Prinzip in der revidierten Übersetzung des
Deutschen Missale Romanum zum Zuge käme, böte sich die Gelegenheit theologisch
und spirituell den ganzen Reichtum der Erlösung in Christus neu zu vermitteln. „Jesus
ist der Stein, der von euch Bauleuten verworfen wurde, der aber zum Eckstein
geworden ist. Und in keinem anderen ist das Heil zu finden. Denn es ist uns
Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet
werden sollen.“ (Apg 4, 11f.)