Ist ein opferloses Christentum möglich?
Die Geste des Opfers verdankt sich nicht einer bestimmten zweckrationalen Überlegung. Der Tod Christi ist das Ende aller Opfer dadurch, daß er deren Unsinn enthüllt. Von Prof. Robert Spaemann
I. Die Geste des Opfers reicht in die älteste Menschheitsgeschichte. Sie verdankt sich nicht einer bestimmten zweckrationalen Überlegung. Der Begriff des Opfers geht nicht dem Opfer voraus, und auch die erklärenden Begründungen des Opfers sind nachträglich. Sie verhalten sich zu dem, was sie erklären sollen, wie die "Derivationen" zu den "Residuen" bei Pareto. Das Opfer ist, so schrieb A. Loisy, "die heilige Handlung schlechthin ... der Akt, in dem der Mensch auf die höchste Weise seinen Glauben bekräftigt und seine Religion realisiert" (A. Loisy: Essai sur le sacrifice, 1920, p. 16). Man kann darüber streiten, ob die verschiedenen Phänomene, die unter dem Opferbegriff zusammengefaßt werden, überhaupt zueinander gehören. Wenn es ein solches Gemeinsames gibt, dann finden wir eine gute Definition in der Enzyklopädie "Religion in Geschichte und Gegenwart". Opfer ist danach "eine rituelle Handlung, in der ein lebens- bzw. machthaltiges Wesen zerstört wird, um unsichtbare Kräfte zu beeinflussen, mit ihnen in Kontakt, ja in Kommunion zu treten, ihr Werk zu beflügeln, ihnen Genugtuung zu bieten, sie zu ehren oder ihre schädlichen Einflüsse zu neutralisieren. Das Opfer ist nicht einfache Gabe, sondern wird durch einen bestimmten Ritus geheiligt. Seine angenommene Wirksamkeit steht in keinem logischen Verhältnis zu den angestrebten Mitteln" (Religion in Geschichte und Gegenwart, 1960, vol. IV, p. 1637).
Opfernd tritt der Mensch in eine Beziehung zur unsichtbaren Welt als dem Grund des Sichtbaren. Das Opfer soll den lebensspendenden und lebenserhaltenden Kontakt zwischen den beiden aufrechterhalten. In den afrikanischen Naturreligionen geht es um den Strom einer force vitale, der nicht unterbrochen werden darf. Opfer sind eine Voraussetzung für das Leben. Ähnlich im Buch Genesis. Nachdem Gott den "lieblichen Geruch" der auf Noahs Altar verbrannten Tiere gerochen hatte, verspricht er, die Erde nicht mehr zu verfluchen um des Menschen willen. Er findet sich ab damit, daß "das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend auf". "Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht." Dieser kosmische Friede ist zugleich die Grundlage der menschlichen Gemeinschaft. Sie wird vor allem durch das gemeinsame Opfermahl hergestellt. Gottheit und Menschheit werden in solchen Mählern vereinigt. Wie gesagt: keine theoretische Erwägung geht diesen Opferriten voraus. Die Erklärungen sind nachträgliche Versuche, bis hin zu der heute wohl wichtigsten, wenn auch keineswegs befriedigenden Theorie von René Girard. Zumal hat diese Theorie den Vorzug, ihre eigene Nachträglichkeit zu erklären. Denn nach René Girard beruhen alle Opfer auf der Verdrängung des Mechanismus, der hinter ihnen steht: der Notwendigkeit, sozial destruktive Gewalt zu domestizieren. Diese Funktion ist nur so lange wirksam, wie sie latent bleibt. Die religiöse Interpretation verkennt das Wesen der violence fondatrice, aber eben dadurch sichert sie diese Funktion. Die modernen rationalistischen Theorien, die die Opferideologie der Lächerlichkeit preisgeben, sind für Girard dagegen Verdrängungen, die sich keine Rechenschaft geben über die Fortdauer der "Gründungsgewalt" und eben dadurch Wiederholungszwänge unvermeidlich machen. Einzig die widerstandslose Übernahme der Sündenbockrolle durch Christus hat die Kette der Gewalt durchbrochen und
zur Aufklärung über ihr Wesen geführt. Erst hier offenbart sich der wahre Gott, der mit dem Fürsten dieser Welt, der Opfer fordert, nichts zu tun hat. Erst mit dem Zerreißen des Tempelvorhangs beginnt das Sakrale, sein düsteres Geheimnis preiszugeben und der Offenbarung des wahren Gott zu weichen. Der Tod Christi ist so das Ende aller Opfer, aber nicht dadurch, daß er deren geheimen Sinn zur Erfüllung bringt, sondern dadurch, daß er deren Unsinn enthüllt. Girard steht damit in der großen gnostischen Tradition seit Markion, die den Gott des Alten Bundes mit dem Fürsten dieser Welt gleichsetzt, der dem Vater Jesu Christi weichen muß. Tatsächlich scheint es ja so zu sein, daß vor dem Erscheinen Jesu dem Gottesbild eine gewisse Zweideutigkeit anhaftet. "Ihr habt den Teufel zum Vater", sagt Christus zu den Juden. Und dann wieder: "Ihr nennt ihn euren Gott, aber ihr kennt ihn nicht. Ich aber kenne ihn."
Der Widerstand gegen die Interpretation des Leidens und Sterbens Jesu als eines dem Vater dargebrachten Sühnopfers für die Sünden der Welt hat wohl einen seiner Gründe darin, dieses Leiden nicht einer Kategorie subsumieren zu wollen, die durch so viele Greuel und Verirrungen der Menschheit belastet ist, einer Kategorie deren Ursprung fast ganz im Dunkel liegt und die, wenn man Girard folgt, das Licht scheuen muß. Aber muß sie das wirklich? Schon der heilige Thomas von Aquin stellt die Frage, ob man das Leiden Jesu unter einen Begriff subsumieren soll, der ganz andere und zweideutige Konnotationen hat. Seine Antwort läuft darauf hinaus, daß man diesen Begriff von seinem Ende, also vom Tod Jesu her verstehen und alle anderen Opfer als mehr oder weniger authentische Realisationen an diesem "wahren Opfer" messen müsse. Gerade wenn es stimmt, daß die Opfer der Menschheit überhaupt nicht aus einem Begriff sondern aus einer dunklen Ahnung hervorgehen, dann kann erst am Ende klar werden, was hier das Geahnte war. Und dieses Ende ist die logike thysia, die rationabilis oblatio, von der beim hl. Paulus und im Kanon der römischen Meßliturgie die Rede ist.
Das Eigentümliche des Opfers, das im Zentrum des Christentums steht, ist, daß hier die Intention der antirituellen Opferkritik der Propheten mit der Opferidee zu einer neuen Synthese verschmilzt, wie dies der 50. Psalm prophetisch vorhersagt. Nachdem es dort geheißen hat, daß Gott kein Gefallen an Schlacht- und Brandopfern hat, sondern ein zerknirschtes und demütiges Herz will, fährt der Psalm plötzlich ganz unvermittelt fort: "Benigne fac, Domine, in bona voluntate tua, Sion, ut aedificentur muri Jerusalem. Tunc acceptabis sacrificium justitiae, oblationes et holocausta, tunc imponent super altare tuum vitulos" ("In deiner Güte, o Herr, erweise dich gnädig an Zion, laß neu erstehn Jerusalems Mauern! Dann werden dir Opfer der Gerechtigkeit gefallen Brandopfer und Ganzopfer, dann wird man Opfertiere legen auf deinen Altar"). Man darf hier wohl einen späteren Zusatz aus der Zeit des Nehemias vermuten. Aber auch als solcher gehört er zur Heiligen Schrift und wir müssen ihn mit Blick auf das Opfer von Golgotha lesen, in dem sich die Intentionen der Opfer ebenso wie die der Opferkritik erfüllen.
Was am Opfer auffällt und was den normalen Menschenverstand kränkt, ist, daß hier - Gott zu Gefallen - etwas vernichtet wird, und zwar nicht etwas Schlechtes, ein Werkzeug des Bösen oder eine Krankheit, sondern ein Gut, ein fehlerloses Tier, Feldfrüchte, eine Jungfrau, ein unschuldiges Kind oder, schließlich, der Sohn Gottes. In den archaischen Opfern soll das Geopferte der unsichtbaren Macht geschenkt werden. Wie schenkt man dieser Macht etwas? Dadurch daß man es selbst unsichtbar macht, also vernichtet. Was hier Verlust ist, soll dort Gewinn werden. Man kann diese Logik nicht verstehen in einer paradiesischen Welt. In einer solchen Welt wird Gott nicht durch den Tod verherrlicht sondern durch das Leben. Das Leben selbst ist der Gottesdienst. Und je voller und gelungener es ist, umso größer ist die Verherrlichung Gottes. Thomas von Aquin schreibt, daß die sexuelle Lust im Paradies größer war als jemals danach, weil die menschliche Fähigkeit zur Freude und die menschliche Sensibilität die der gefallenen Natur übertraf. Hier ist für so etwas wie Opfer kein Platz. Das gelungene Leben selbst ist das Opfer, d. h. die Gabe.
Allerdings gibt es schon im Paradies ein Analogon des Opfers, nämlich einen von Gott auferlegten Verzicht, den Verzicht, vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen. Mit diesem Verzicht sollten die Menschen die Autorität Gottes ausdrücklich anerkennen und, wie der hl. Thomas sagt, etwas nur deshalb tun, weil es Gott geboten hat. Erst die Schlange erweckt das Begehren nach dem Verbotenen und macht aus dem Verzicht so etwas wie ein Opfer, nämlich das Opfer des Begehrens. Erst nach dem Sündenfall aber beginnen die eigentlichen Opfer.
II.
Der älteste Satz der Philosophie, der Satz des Anaximander, weiß mehr von diesen Zusammenhängen als viele heutige Theologen. Der Satz lautet: "Woraus die Dinge entstehen, dahinein vergehen sie auch nach der Ordnung der Zeit. Denn sie zahlen einander Buße für das Unrecht." Was sagt der Satz? Alles, was existiert, existiert auf Kosten von anderem. Es degradiert alles mit ihm Existierende zu bloßen Umwelt. Es ist gewalttätig vom Wesen her. Seine Grundtendenz ist nicht Liebe sondern Selbstbehauptung. Dafür aber zahlt es am Ende mit dem eigenen Untergang, und so bleibt die ewige dike, die kosmische Gerechtigkeit unberührt. Der Tod ist der Preis für die gewalttätige Selbstbehauptung. Diese ist Unrecht. "Ecce, in iniquitatibus conceptus sum, ei in peccatis concepit me mater mea" ("Siehe, ich bin geboren in Schuld; ich war schon in Sünde, als mich die Mutter empfangen."), heißt es im 50. Psalm. Der Psalmist weiß darüber mehr als Anaximander. Für Anaximander gibt es auf der einen Seite die Welt des gegenseitigen Unrechts. Aber weil jeder selbst das gleiche Unrecht erleidet, das er zufügt, und weil er für das Loben mit dem Tod bezahlt, bleibt die Weit im Ganzen immer in Ordnung und die ewige Gerechtigkeit unberührt. Es ist ja hier überhaupt nicht von einem sittlichen Unrecht die Rede, weil gar nicht von Menschen, sondern von Dingen die Rede ist, von Lebewesen, denen der Mensch zugerechnet wird. Der Psalmist dagegen sieht den Menschen als ein Wesen, das nicht blind Unrecht tut und blind dafür bezahlt, sondern als ein Wesen, das unmittelbar mit dem Ursprung der Dinge konfrontiert ist und so mit der Forderung, Recht zu tun und das Unrecht, wenn er es getan hat, zu bereuen: "Tibi soli peccavi, et malum coram te feci" ("Ich habe gesündigt an Dir allein; was böse vor dir, ich hab' es getan."), so lautet der Schlüsselsatz dieses Psalms. An dessen Ende sagt der Psalmist, daß er gern Opfer darbringen würde, um wieder in die göttliche Ordnung zurückkehren zu dürfen, daß aber Gott
an solchen Ersatzleistungen kein Gefallen hat. Zwar gilt für alle Menschen, daß "der Tod der Sold der Sünde" ist, aber er ist nur objektiv die Wiederherstellung des Gleichgewichts, der Preis des Lebens, wie uns auch die Biologen lehren. Er führt aber deshalb nicht den, der stirbt, in die göttlichen Ordnung zurück. Die Ordnung stellt sich auch ohne ihn wieder her. "Non mortui laudabunt te, Domine, neque qui descendunt in infernum" ("Die Toten werden dich nicht mehr loben, Herr, und auch nicht diejenigen, die in die Unterwelt gefahren sind."), heißt es in einem anderen Psalm. Darum fährt der 50. Psalm fort: "Sacrificium Deo spiritus contribulatus. Cor contritum et humiliatum, Deus, non despicies" ("Mein Opfer an Gott ist ein reuiger Sinn; ein Herz voll Demut und Reue wirst du nicht verschmähen"). Der Tod, der zu Gott zurückführt, ist ein Akt, den wir selbst vollziehen müssen: das "Sterben des alten Menschen". Aber auch das können wir nicht selbst tun. Die Reue, das zerknirschte Herz ist selbst ein Geschenk. Die vollkommene Reue ist nicht die Bedingung, sondern das Zeichen der bereits geschehenen Vergebung.
Jesus lehrte diese Vergebung, die aller Leistung des Menschen vorausgeht und für jeden bereit liegt, der sie möchte. Der verlorene Sohn kommt ja nicht aus reiner Liebe zum Vater zurück, sondern weil es ihm so schlecht geht, daß er gar keine Alternative mehr hat. Die "vollkommene Reue" stellt sich erst ein, als der Vater ihn nicht als Tagelöhner anstellt sondern ihn als Sohn in seine Arme schließt. Wo allerdings der Lehrer dieser bedingungslosen Vergebung von denen zurückgewiesen wird, die offenbar glauben, sie nicht zu brauchen, und die ihrerseits nicht bedingungslos vergeben wollen, da scheint auch die Weisheit Jesu am Ende zu sein. Aber Gottes Weisheit ist nie zu Ende. Seine letzte Weisheit ist das Kreuz. Die Zurückweisung der Liebe Gottes wird von ihm verwandelt in ein Opfer für die, die diese Liebe zurückweisen. Nicht sie bringen dieses Opfer sondern der Sohn bringt es dein Vater für die die Liebe zurückweisen, weil sie "nicht wissen, was sie tun". Sie alle worden, wie auch Judas, zu Spielern in einem Drama, das ihnen selbst verborgen bleibt. "Mußte nicht Christus leiden und so in seine Herrlichkeit eingehen?" Es handelt sich nicht um eine deduzierbare Notwendigkeit, so als hätte es für Gott keine andere Möglichkeit gegeben. Gott hat diesen Weg unserer Erlösung gewählt. Seine innere Notwendigkeit ist wie die eines vollkommenen Kunstwerks, bei dem kein Element anders sein könnte als es ist, ohne daß wir sagen könnten, ein anderes Kunstwerk sei nicht möglich gewesen. In diesem göttlichen Kunstwerk der Heilsgeschichte hat das Opfer eine zentrale Stelle. Hier berühren sich die äußersten Gegensätze. Auf der einen Seite die Läuterung der Opferidee, die Verwerfung aller ersatzweisen Opfergaben angefangen mit den archaischen Menschenopfern zugunsten eines vollkommenen Lebens, und auf der anderen Seite das blutige Menschenopfer, aber nun als Selbstopfer des Gottesmenschen und als Vollendung seines vollkommenen Lebens.
Die prophetischen Visionen eines Endes des Opfers konnten sich nur erfüllen, wenn einmal das vollkommene Opfer Wirklichkeit geworden war. So nur konnte ein Leben möglich werden, dessen Sittlichkeit nicht doch wieder nur Ausdruck geistigen Hochmuts wäre sondern aus Dankbarkeit für dieses Opfer hervorgeht. Nicht umsonst heißt die Feier dieses Opfers "Eucharistia", Danksagung.
III.
Für die aufgeklärte, rationalistische Interpretation des Christentums gibt es nicht das reale Drama der Heilsgeschichte, sondern nur eine fortschreitende Belehrung des Menschen. Wenn Paulus schreibt, Christus habe am Kreuz die Scheidewand zwischen Juden und Heiden niedergerissen, so heißt das in der modernistischen Interpretation, wir seien darüber belehrt worden, daß diese Scheidewand nur eine eingebildete war. Daß hier eine von Gott wirklich verfügte Grenze nun von Gott aufgehoben wurde, gilt dem Modernismus als Mythologie. Und so auch akzeptiert der Modernismus das Ende des Aberglaubens an die Wirksamkeit von Opfern, nicht aber die Lehre von einem letzten Opfer, das alle anderen Opfer abgelöst hat. Nur René Girard sieht hier ein reales Geschehen, weil er in den Opfern der Vorzeit eine reale Funktion erkennt. Aber diese Funktion ist für Girard doch schließlich nur eine sozialpsychologische. Und Girard kann auch nicht einsichtig machen, warum nach dem Tod Jesu die menschliche Gesellschaft auf einmal dieses Sündenbockmechanismus' für ihre Stabilisierung nicht mehr bedarf. Vielleicht bedarf sie seiner genau dann wieder, wenn das Gedächtnis des Erlösungsopfers nicht mehr begangen wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang Kant. Kant schreibt in seiner Rechtsphilosophie, daß ein Staat, der sich auflöst, die Pflicht habe, zuvor noch die Todesstrafe an denen zu exekutieren, die ihr wegen Mord verfallen sind, damit, so schreibt Kant, die ungesühnte Blutschuld nicht auf den auseinandergehenden Rechtsgenossen laste. Hier kehren offensichtlich die Erinnyen, die antiken Rachegeister, zurück. Das christliche Mittelalter hat eine solche mythische Sprache nicht mehr gesprochen. Damals glaubte man, Sühne in einem metaphysischen Sinn, wie Kant sie versteht, sei ein für allemal durch Christus geleistet. Staatliches Strafrecht orientiert sich deshalb z. B. bei Thomas von Aquin ausschließlich an Gesichtspunkten der Erfordernisse des Gemeinwohls. Aber Kant verwarf ja den
Gedanken eines stellvertretenden Erlösungsopfers. Und so kehrt die Sühneforderung in ihrer mythischen Form ins Strafrecht zurück. Und ist es wirklich ein Zufall, daß der technisierte Völkermord der Nationalsozialisten von den Hinterbliebenen der Opfer "Holocaust" getauft wurde, also mit jenem Wort, das die israelischen Tempelopfer bezeichnete? Noch nie wurde ein so gewaltiges Sündenbockritual zelebriert von solchen, die nichts mehr wissen wollten vom Lamm Gottes, das die Sünden der Weit hinwegnimmt. Dieser Holocaust hatte freilich keinen göttlichen Adressaten mehr.
IV.
Die Opferidee ist so alt wie die Menschheit. Daß das Leben nur aufgrund von Opfern Bestand hat, daß ein freiwilliger Verlust unten ein Gewinn oben ist, das alles hat für die Menschen immer unmittelbare Evidenz gehabt. Aber diese Evidenz widersetzt sich einer rationalen Rekonstruktion. So gibt es nicht nur viele Opfertheorien sondern auch viele theologische Theorien über das Opfer, das unsere Erlösung bewirkt hat. Gerade das tiefste Mysterium unseres Glaubens hat nie eine dogmatisch eindeutige Formulierung gefunden. Die Lehre des heiligen Irenäus oder des heiligen Gregor von Nyssa, daß Jesus den Tribut seines Blutes an Satan gezahlt hat, um uns aus seiner Knechtschaft loszukaufen, steht neben der Lehre des heiligen Anselm, daß er sein Blut vergossen hat, um der Gerechtigkeit Gottes Genugtuung zu leisten, oder neben der Lehre Luthers, daß er den Zorn des Vaters besänftigt hat. Alle diese Lehren finden ihre Grundlage in neutestamentlichen Texten. Und alle müssen daher wohl irgendwie vereinbar sein. Schließlich fordert der heilige Paulus im 1. Korintherbrief dazu auf, den Leib eines Übeltäters Satan zu überlassen, damit sein Geist gerettet wird am Tage des Herrn (1. Kor 5,5). Alle Aktivität des Teufels erscheint in der Heiligen Schrift als eine solche, die wider Willen Gottes Plan ausführen muß. Die Kirche hat nicht einmal dogmatisch definiert, daß Jesu Tod ein Opfer für unsere Sünden war. Sie hat es nicht definiert, weil es nie bestritten wurde. Es gehörte zur Lehre des Magisterium ordinarium. Wohl aber hat sie es indirekt definiert, nämlich auf dem Trienter Konzil. Das Konzil erklärte, daß die heilige Messe als Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers ein wirkliches und eigentliches Opfer ist. Sie hat es gegen Luther definiert, der im Meßopfer eine Gefährdung des Glaubens an die Einmaligkeit und Einzigkeit des Opfers Christi sah. Tatsächlich aber sehen wir heute, daß das Meßopfer das eigentliche Bollwerk dieses Glaubens ist. Erst seitdem der Opfercharakter der Messe
auch innerhalb der katholischen Kirche in Frage gestellt oder in den Hintergrund gerückt wird, wird nun von einer wachsenden Anzahl von Theologen auch bestritten, daß der Tod Christi ein Opfer war. Erst seit die Altäre in unseren Kirchen durch Mahltische ersetzt werden, spricht man nicht mehr davon, daß das Kreuz ein Altar war.
Es war die Aufklärung - in ihrer religionsfreundlichen Variante -, also z. B. Rousseau und Kant, die die Deutung des Todes Jesu als Sühnopfer ablehnte. Sie interpretierte das Christentum als "religion naturelle", was für sie nicht Naturreligion bedeutete sondern, wie Kants Formel lautet: "Religion innerhalb der bloßen Vernunft". Jesus galt den Aufklärern als deren bedeutendster Lehrer und höchstes Vorbild. Wahrer Gottesdienst ist ein sittliches Leben. Für dieses gibt es keinen Ersatz. Schon Platon hatte das gelehrt. In allen Hochreligionen gibt es Opferkritik. So kritisieren die Upanishaden die vedischen Kultopfer. Und die Propheten Israels, Jesaia und Jeremias, schreiben, daß für Gott die Opfer ein Greuel sind. Was Gott will ist: Trachten nach Recht, Hilfe für die Unterdrückten, den Witwen und Waisen Recht schaffen. "Verlaßt euch nicht auf die Lügenworte: 'Hier ist des Herrn Tempel!' Sondern bessert euer Leben und euer Tun." (Jer. 7, 4) Ausgerechnet am Karfreitag scheute sich die Kirche in der alten römischen Liturgie nicht, die Worte des Propheten Hosea zu lesen: "Misericordiam volui et non sacrificium, et scientiam Dei plus quam holocausta" ("Ich will Güte und nicht Opfer, will lieber Gotteserkenntnis als Brandopfer.”).
Was am Gedanken des Opfertodes Jesu darüberhinaus auf Ablehnung stieß, war der Gedanke der Stellvertretung. Stellvertretung, so scheint es, gibt es nur im Bereich dinglicher Wiedergutmachung, nicht im Bereich der sittlichen Gesinnung. Die Aufklärung hielt streng an der Idee eines gerechtes Gottes fest, der die Guten belohnt und die Bösen bestraft. Heutige Theologen argumentieren gegen das Opfer gerade umgekehrt: Gott vergibt als reine Liebe bedingungslos. Mit dieser Bedingungslosigkeit der Liebe scheint der Gedanke einer Versöhnung Gottes durch einen Tod unvereinbar. Ein weiteres, allerdings sehr schwaches Argument wird seit einiger Zeit von dem Theologen Eugen Biser vorgetragen: einen Menschen zur Rettung anderer Menschen einem gewaltsamen Tod preisgeben, widerspricht dem kategorischen Imperativ, Menschen immer als Selbstzweck zu behandeln. Abgesehen von der seltsamen Vorstellung, Gott als dem kategorischen Imperativ unterworfen zu denken, würde dieses Argument von Gott verlangen, den Tod jedes Menschen zu verhindern. Warum soll es schlecht sein, dem Tod eines Menschen, der ja nicht von Gott sondern von Menschen verursacht wird, den unendlichen Wert eines erlösenden Opfers zu geben? Außerdem: Da Gott die Toten auferweckt, macht er den Menschen, wenn er ihn sterben läßt, nicht zum bloßen Mittel. Die Annahme des Opfers Christi ist die Auferweckung Christi. Und schließlich: der Einwand geht stillschweigend davon aus, daß die Person Jesu eine menschliche Person und nicht die des ewigen Sohnes ist, die der Vater, wie die Schrift sagt, für uns dahingegeben hat. Die Person Jesu hört nicht auf, im Schoß des Vaters zu ruhen. Sie nimmt die Menschen in ihre ewige Hingabe an den Vater hinein. Daß das in der Form eines grausamen Todes geschieht, macht offenbar, was die Sünde ist: der Aufstand der Menschheit gegen Gott. Daß es der ganz Unschuldige ist, der stellvertretend "durch Leiden Gehorsam lernt", wie der Hebräerbrief sagt, macht seinen Tod zum erlösenden Opfer, das das
Schicksal der Welt umkehrt.
V.
Ist ein opferloses Christentum möglich? Die Frage ist nicht, ob es möglich ist, sondern ob es wirklich ist. Nach Auskunft der Heiligen Schriften und der Tradition ist es nicht wirklich. Was ist Christentum? Nach katholischem Verständnis gibt es nicht einen Oberbegriff "Christentum", der sich zu den christlichen Konfessionen wie die Gattung zu den Arten verhält. Dies ist freilich der äußere, soziologische Begriff des Christentums. Christen sind danach alle Menschen, die in Jesus die maßgebende Gestalt für ihr Leben und für ihre Gottesbeziehung sehen. Aber wer ist Jesus? Was wollte er wirklich? Was bedeutet konkret Orientierung an Jesus? Wie wissen wir, ob wir, wenn wir "Jesus" sagen, nicht nur eine eigene Projektion meinen? Die katholische Antwort ist klar. Es gibt eine einzige Jüngergemeinde Jesu, eine einzige Kirche Gottes. Sie ist in der Welt sichtbar konkretisiert als die katholische Kirche. Auch außerhalb der Kirche gibt es Menschen und Gemeinschaften, die Jesus nachfolgen wollen und in unterschiedlichem Maß am Glauben und an den Heilsgütern der Kirche Anteil haben. In diesem Zusammenhang spielt der Begriff der Hierarchie der Wahrheiten eine Rolle, ein Begriff, der für Katholiken im Grunde ohne Bedeutung ist, der aber ein wichtiges Maß der größeren oder geringeren Nähe von Nichtkatholiken zur katholischen Kirche darstellt. In dieser Hierarchie der Wahrheiten steht die Bedeutung des Todes Christi als eines erlösenden Opfers so obenan, daß Christsein eigentlich gleichbedeutend mit diesem Glauben ist. Daß wir "in seinem Namen Vergebung der Sünden erlangen" ist das Bekenntnis, das die Apostel als Taufbekenntnis verlangten. Wenn diese Vergebung von Jesus nur als allgemeine Wahrheit verkündet worden wäre, hätte sie mit dem Bekenntnis zu seinem Namen nichts zu tun. Wenn wir die Lektion gelernt haben, könnten wir den Lehrer vergessen. Jesus würde, wie Sokrates, sagen: Kümmert euch nicht um Jesus, kümmert euch um die Wahrheit. Aber der Apostel schreibt: "In Ihm haben
wir die Vergebung der Sünden", und die Liturgie am Pfingstdienstag geht so weit zu sagen: "Ipse est remissio omnium peccatorum". ("Er selbst ist die Vergebung aller Sünden.") Dieser Satz hat nur Sinn, wenn es der Tod Jesu ist, der diese Vergebung erwirkt, wie es alle Apostel lehren.
Die heilige Messe ist nicht ein weiteres Opfer sondern sie ist, so könnte man sagen, ein "Metaopfer", sie ist das Opfer eines Opfers. Das Opfer von Golgotha wird der Kirche als ihr Opfer in die Hand gelegt. Daß ein Ereignis der Vergangenheit als dieses numerisch identische Ereignis in jeder Messe Gegenwart wird, ist nur dadurch möglich, daß es, wie der Hebräerbrief und die Apokalypse sagen, im Himmel ewige Gegenwart ist, "von Anbeginn der Welt". Immer schon ist der ewige Sohn das geschlachtete Lamm, das im Mittelpunkt der himmlischen Liturgie steht. Die irdische Liturgie ist nur als Teilhabe an der himmlischen verstehbar. Ohne diese würde es sich um eine bloße Erinnerung handeln. Diese Teilhabe hat die Gestalt eines Ritus. Gerade weil es sich um dasselbe handelt, was auf Golgotha geschah und im Abendmahlssaal antizipiert wurde, gerade deshalb ist es nicht etwas Ähnliches. Überall, wo man die Abendmahlsituation zu kopieren sucht historisierend oder aktualisierend kann man beobachten, daß der Glaube an die reale Gegenwart dieses Ereignisses schwindet. Wir feiern die Liturgie der Messe weder an einem Tisch noch an einem Kreuz. Wir feiern sie, wie die älteste Menschheit, an einem Stein, der Kreuz, Tisch und den geopferten Christus zugleich repräsentiert, an einem Altar.
Es handelt sich bei diesem Text um eine Rede, die Robert Spaemann am 1. Oktober 1997 als Eröffnungsvortrag in Poissy auf dem dritten internationalen Kolloquium des Internationalen Studienzentrums für Liturgie (CIEL) gehalten hat. Er ist wiedergegeben in dem Tagungsband Altar und Opfer. Die Vorträge des dritten internationalen Kolloquiums: Geschichtliche, kanonische und theologische Arbeiten über die römisch-katholische Liturgie.