Die Bekehrung des Paulus als Muster wahrer Umkehr
Erste Adventpredigt
von P. Raniero Cantalamessa
im Vatikan.
Predigt, die P. Raniero Cantalamessa OFM Cap., Prediger des Päpstlichen
Hauses, am Freitag in der Kapelle „Redemptoris Mater“ vor Papst Benedikt XVI.
und dessen Mitarbeitern der Römischen Kurie gehalten hat.
Das Thema dieser ersten Betrachtung des Kapuzinerpaters zur Vorbereitung auf
Weihnachten lautete: „Doch was mir damals ein Gewinn war, das habe ich um
Christi Willen als Verlust erkannt" (Phil 3,7) - die Bekehrung des Paulus,
Vorbild wahrer Bekehrung gemäß dem Evangelium.
* * *
Das Paulusjahr ist eine große Gnade für die Kirche, stellt uns aber auch vor
eine Gefahr: Die Gefahr, bei Paulus, bei seiner Person und Lehre stehen zu
bleiben, ohne den folgenden Schritt von Paulus zu Christus zu tun. Der Heilige
Vater hat vor dieser Gefahr in der Predigt , in der er das Paulusjahr ausgerufen
hat, gewarnt.
Während der Generalaudienz vom 2. Juli bekräftigte er deshalb: „Das ist denn
auch der Zweck des Paulusjahres: Vom heiligen Paulus lernen, den Glauben lernen,
Christus lernen, schließlich den Weg des rechten Lebens lernen.“
Viele Male ist dies in der Vergangenheit geschehen, bis hin zur Formulierung der
absurden These, nach der Paulus, nicht Christus, der wahre Gründer des
Christentums wäre. Jesus Christus wäre für Paulus das gewesen, was Sokrates für
Platon war: Ein Vorwand, ein Name, der dem eigenen Denken zu unterstellen ist.
Der Apostel ist, wie vor ihm Johannes der Täufer, ein Zeigefinger, der auf den
weist, der „größer ist als er“, während er sich nicht einmal dessen würdig
befindet, sein Apostel zu sein. Jene These ist die vollständigste Verfälschung
und die schwerste Beleidigung, die gegenüber dem Apostel Paulus vorgebracht
werden kann. Kehrte er ins Leben zurück, so würde er auf jene These mit
derselben Vehemenz reagieren, mit der er angesichts eines ähnlichen
Missverständnisses der Korinther fragte: „Wurde etwa Paulus für euch gekreuzigt?
Oder seid ihr auf den Namen des Paulus getauft worden?“ (1 Kor 1,13).
Ein weiteres Hindernis, das wir Gläubigen überwinden müssen, besteht darin, bei
der Lehre des Paulus über Christus stehen zu bleiben, ohne uns von seiner Liebe
zu ihm und von seinem Feuer anstecken zu lassen. Paulus will für uns nicht nur
eine Wintersonne sein, die zwar Licht spendet, aber nicht wärmt. Die
offensichtliche Absicht seiner Briefe ist vielmehr, den Leser nicht nur zur
Kenntnis, sondern auch zur Liebe und zur Leidenschaft für Christus zu führen.
Zu diesem Zweck wollen die drei Adventsbetrachtungen dieses Jahres beitragen,
ausgehend von der heutigen, in der wir über die Bekehrung des Paulus nachdenken
werden, ein Ereignis, das, nach dem Tod und der Auferstehung Christi, den
größten Einfluss auf das Christentum genommen hatte.
1. Die Bekehrung des Paulus von Innen gesehen
Die beste Erklärung der Bekehrung des heiligen Paulus ist jene, die er selbst
gibt, wenn er von der christlichen Taufe als einem „Getauftsein auf den Tod
Christi“ spricht und dabei sagt: „Wir wurden mit ihm begraben", um mit ihm
aufzuerstehen und „als neue Menschen zu leben“ (vgl. Röm 6,3-4). Er hat das
Ostergeheimnis Christi an seiner Person neu gelebt, um das sich in der Folge
sein ganzen Denken drehen sollte. Es gibt auch äußerliche und beeindruckende
Ähnlichkeiten. Jesus blieb drei Tage im Grab; drei Tag lang lebte Saulus wie ein
Toter: Er konnte weder sehen noch aufstehen oder essen; dann - im Augenblick der
Taufe - öffneten sich seine Augen, er konnte essen und wieder zu Kräften kommen,
er kehrte ins Leben zurück (vgl. Apg 9,18).
Sofort nach seiner Taufe zog sich Jesus in die Wüste zurück, und auch Paulus zog
sich nach seiner Taufe durch Hananias in die Wüste von Arabien zurück, das heißt
in die Wüste um Damaskus. Die Exegeten nehmen an, dass zwischen dem Ereignis auf
dem Weg nach Damaskus und dem Beginn seines öffentlichen Wirkens in der Kirche
ungefähr zehn Jahre der Stille im Leben des Paulus liegen. Die Juden suchten ihn,
um ihn zu töten; die Christen trauten ihm noch nicht und hatten Angst vor ihm.
Seine Bekehrung erinnert an jene Kardinal Newmans, den seine vormaligen Brüder
im anglikanischen Glauben als Abgefallenen sahen, während ihm die Katholiken,
wegen seiner neuen und gewagten Ideen, voller Misstrauen begegneten.
Der Apostel hatte sich in ein langes Noviziat begeben; seine Bekehrung hat nicht
nur wenige Minuten gedauert. Und in dieser seiner Kenosis, in dieser Zeit des
Leerwerdens und der Stille hat er jene explosive Energie und jenes Licht
angesammelt, das er eines Tages über der Welt ausgießen sollte.
Von der Bekehrung des Paulus stehen uns zwei verschiedene Beschreibungen zur
Verfügung: Die ein beschreibt das Ereignis sozusagen von Außen und in einem
historischen Schlüssel, während die andere das Ereignis von Innen, in einem
psychologischen oder autobiographischen Schlüssel erzählt. Die erste Art findet
sich in den verschiedenen Berichten, die in der Apostelgeschichte zu lesen sind.
Zu ihr gehören auch einige Hinweise, die Paulus selbst auf das Ereignis gibt,
wenn er erklärt, wie er sich vom Verfolger zum Apostel Christi wandelte (vgl.
Gal1,13-24).
Zur zweiten Art gehört das dritte Kapitel des Briefes an die Philipper, in dem
der Apostel eine Beschreibung von dem gibt, was für ihn, subjektiv gesehen, die
Begegnung mit Christus bedeutete; eine Beschreibung dessen, was er vorher
gewesen ist, und dessen, was er in deren Folge geworden ist; mit anderen Worten:
worin im existentiellen und religiösen Sinne die Veränderung bestand, zu der es
in seinem Leben gekommen ist. Wir konzentrieren uns auf diesen Text, der, dem
Werk des heiligen Augustinus ähnlich, als die „Bekenntnisse des heiligen Paulus“
definiert werden könnte.
Bei jeder Veränderung gibt es einen terminus a quo und einen terminus ad quem,
einen Ausgangs- und einen Endpunkt. Der Apostel beschreibt vor allem den
Ausgangspunkt, das heißt das, was er vorher gewesen ist:
„Wenn ein anderer meint, er könne auf irdische Vorzüge vertrauen, so könnte ich
es noch mehr. Ich wurde am achten Tag beschnitten, bin aus dem Volk Israel, vom
Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, lebte als Pharisäer nach dem Gesetz,
verfolgte voll Eifer die Kirche und war untadelig in der Gerechtigkeit, wie sie
das Gesetz vorschreibt“ (Phil 3,4-6).
Es ist leicht, beim Lesen dieser Beschreibung einen Fehler zu begehen: Es
handelt sich dabei nicht um negative Titel, sondern vielmehr um die höchsten
Titel der Heiligkeit jener Zeit. Mit ihnen hätte sofort der
Heiligsprechungsprozess des Paulus begonnen werden können, hätte es derartiges
damals gegeben. Es ist, als sage man von einem heutigen Menschen: Getauft am
achten Tag, der Struktur des Heils par excellence, der katholischen Kirche,
zugehörig, Mitglied eines der strengsten Ordens der Kirche (das waren nämlich
die Pharisäer), der Ordensregel gegenüber streng gehorsam...
Dagegen trennt im Text ein Absatz die Seite und das Leben des Paulus in zwei
Teile. Es wird von einem entgegensetzenden „Doch" ausgegangen, das einen totalen
Kontrast bildet:
„Doch was mir damals ein Gewinn war, das habe ich um Christi Willen als Verlust
erkannt. Ja noch mehr: Ich sehe alles als Verlust an, weil die Erkenntnis
Christi Jesu, meines Herrn, alles übertrifft. Seinetwegen habe ich alles
aufgegeben und halte es für Unrat, um Christus zu gewinnen“ (Phil 3,7-8).
Dreimal kehrt in diesem kurzen Text der Name Christi wieder. Die Begegnung mit
ihm hat sein Leben zweigeteilt, sie hat ein „Vorher" und ein „Nachher"
geschaffen. Eine höchst persönliche Begegnung - es ist dies der einzige Text, in
dem der Apostel die Singularform „mein" und nicht „unser" Herr benutzt - und
eine eher existentielle als mentale Begegnung. Keiner wird je genau wissen, was
sich in jenem kurzen Gespräch zutrug: „Saulus, Saulus!“ - „Wer bist du, Herr?“ -
„Ich bin Jesus!“. Eine „Offenbarung“, wie er es definiert (vgl. Gal 1,15-16). Es
handelte sich um einen Art Verschmelzung, um einen Lichtblitz, der noch heute,
nach einem Zeitraum von 2000 Jahren, die Welt erhellt.