Warum soll ich gerade sonntags in die
Kirche gehen? Ich bete, wann und wo ich will.
„Aufschrei aus einer Kirchenbank“nannte die Theologin
Hanna-Barbara Gerl einen Abschnitt aus ihrem Essay
Immer
wieder die Kirche.
Es geht um die Sonntagspredigt, irgendwo in einer
deutschen Gemeinde, kurz nach der Lesung und dem Evangelium. „Unbeschadet
der wundervollen Texte, die zuvor gelesen wurden", schreibt die Autorin,
„fliegt nun folgendes am Ohr vorbei: Mut zum Engagement - jederzeit ein
neues Leben anfangen - Sicherheiten aufgeben - gegen Macht und Kapital -
Schwachstellen annehmen - betroffen sein - sich einbringen - Option für
die Armen - gewohnte Ordnungen umkehren -- geschwisterliches Miteinander
- von den Frauen lernen - in Jesus hat Gott uns ein Angebot gemacht". Für
die Ohrenzeugin in der Kirchenbank klingt das alles andere als erhebend:
„Das tönt so dahin, zeitlich endend, inhaltlich endlos - nicht ein
religiöser Kaugummi, der nicht noch einmal durchgekaut würde. Würde die
Gemeinde nicht so konzentriert weghören, wäre eine Seelenverstimmung
unausweichlich. Aber sie hört weg, eisern, betonhart. Die wenigen
Wortfetzen, die einen trotz Training immer noch erreichen, pudern das
Gehirn noch am Nachhauseweg ein, lösen sich dann aber im Alltag auf."
Aufgelasene Worte verrinnen im Nichts, Gedanken zerplatzen
wie Seifenblasen, bevor sie den anderen überhaupt erreicht haben. Und
gerne erläutern engagierte Lektorinnen oder Lektoren den mündigen
Gläubigen vor Beginn der Messe ausgiebig, was sie denn dann später in der
Lesung; hören werden oder worüber der Herr Pfarrer predigen wird.
Das Trauerspiel in vielen Kirchen scheint nicht darin zu
bestehen, daß den Gottesdienstbesuchern angesichts des hohen Anspruchs
katholischer Glaubenswahrheiten die Spucke wegbleibt, sondern Langeweile
um sich greift. Ob man sich das denn Sonntag für Sonntag antun müsse,
mögen auch gläubige Katholiken fragen, für die es eigentlich
selbstverständlich ist, die Kirchengebote zu achten. Und für diejenigen,
die seit längerer Zeit kein Gotteshaus mehr von innen gesehen haben,
stellt nicht zuletzt das monotone Gebaren bei der „sonntäglichen
Pflichterfüllung" einen Hauptgrund dar, es mit der Wiederaufnahme des
regelmäßigen Kirchenbesuchs erst gar nicht richtig zu versuchen.
Trotz allem - für das Sonntagsgebot der Kirche gibt es
gute, ja sogar sehr gute Gründe. Das ist (las eine. Das andere aber ist,
daß es auch viele Christen gibt, die dieses Gebot Sonntag für Sonntag
erfüllen, ohne daß man es ihnen anmerkt. Besser gesagt: Ein nicht
praktizierender Christ, der sich zufällig einmal in einen Gottesdienst
verirrt, muß nicht unbedingt fasziniert sein von seinen Mitbürgern, die -
im Gegensatz zu ihm - zur „besseren Hälfte" der Christenheit gehören. Den
meisten Menschen teilt sich der Glaube durch das Sehen mit. Kinder sehen
ihre Eltern, eine Lehrerin oder einen Lehrer, Heranwachsende einen Freund,
einen Priester oder einen Kreis junger Christen. In diesen engen und
persönlichen Beziehungen entscheidet sich alles. Wie anders als durch das
Schauen auf die bereits Glaubenden sollte sich der Sinn des Glaubens
erkennen lassen. Und wie soll jemand den Zugang zu den liturgischen Feiern
und
zum
Gottesdienst der Kirche finden, wenn nicht diejenigen, die
bereits daran teilnehmen, die Schönheit dieser Augenblicke bezeugen. Zwar
mag eine hart am Wind des Zeitgeists segelnde Verkündigung mit ihrer etwas
dünnflüssigen Sprache nicht immer anziehend auf bodenständige Realisten
wirken. Den :lautlosen Auszug aus den Kirchen jedoch ganz den Pfarrern auf
der Kanzel zuzuschreiben, wäre sicherlich auch nicht richtig.
Die Gestalt, die hier wohl mehr Schaden angerichtet hat,
ist eine „Erfindung" der Neuzeit. Gemeint ist der Sonntagschrist, der
Wanderer zwischen den Welten, das existentielle Chamäleon. Übrigens kein
schlecher Kerl: Im Hochamt singt er kräftig mit, in den Klingelbeutel gibt
er reichlich und beim Friedensgruß wird es ihm richtig warm ums Herz. Auch
im zivilen Leben ist er eine respektable Persönlichkeit. Nicht nur, daß
er regelmäßig Miete und Steuern zahlt. Am Arbeitsplatz steht er seinen
Mann, er sorgt sich um seine Kinder und ist am Stammtisch ein gern
gesehener Gast. Nur daß man ihm hier, unter Kollegen und im Freundeskreis,
überhaupt nicht anmerkt, daß er laut Taufschein und der Häufigkeit des
Kirchenbesuchs zufolge eigentlich ein, praktizierender Christ ist.
So mußte der „arme" Sonntagschrist schon oft Prügel
einstecken - gilt er doch auch ein wenig als Heuchler, als Mann impotenter
Überzeugungen oder gar als notorischer Wendehals. Zugleich aber wird man
zugeben müssen, daß es die Christen früher einmal leichter hatten, „ihren
Glauben zu leben": öffentlich, frei, in aller Ungezwungenheit. Doch für
die Kirche sind die Zeiten in der christlichen Gesellschaft und im
christlichen Staat vorbei. Und da, wo sich ein katholisches oder
protestantisches „Milieu" noch hält, bröckelt es bereits gewaltig. Während
des Übergangs von der ständischen und zutiefst christlich geprägten
Gesellschaft in die Epoche der modernen säkularen Nationalstaaten hat die
Kirche
viel geleistet. Durch Revolutionen, Säkularisierung und
Verstaatlichung der Kirchengüter selber in ihren materiellen Strukturen
tief getroffen, mußte sie gleichzeitig ihre Seelsorge und ihr
Glaubenszeugnis mit einer gewaltigen Kraftanstrengung auf neue
Verhältnisse einstellen: in den schnell wachsenden Städten und Metropolen
entstanden vor allem im neunzehnten Jahrhundert ganz neue
Bevölkerungsschichten von Angestellten, Arbeitern und Beamten, die
sogenannte industrielle Revolution verwandelte schlagartig die
gesellschaftliche Ordnung.
Überall gab es Laien und Priester, die das Gebot der Stunde
erkannten. Don Bosco in Turin, Adolph
Kolping
im Rheinland, die
Vinzenzkonferenzen in Frankreich. Aber genauso mußte die Kirche erkennen,
daß vielerorts ein kirchliches Vakuum entstanden war. Inmitten des
städtischen Proletariats, das sich innerhalb weniger Jahrzehnte bildete,
brodelten bereits die ideologischen Giftküchen und sollten ihre Wirkungen
in den Jahrzehnten der Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts voll
entfalten. Die Kirche aber, geschwächt durch den - im Grunde
segensreichen, damals zunächst jedoch schwer zu verdauenden - Verlust
ihrer weltlichen Macht, kam zu spät. Breite Schichten der Bevölkerung
entfernten sich von ihr, ein Prozeß der Entchristianisierung setzte ein,
der bis heute anhält. Vielleicht lag hier die Geburtsstunde des
„Sonntagschristen", Produkt einer Atomisierung und Individualisierung der
Gesellschaft, die sich nicht mehr als christliche empfindet.
Die Kirche ist das Volk Gottes. Doch wenn dieses Volk
versprengt und Glaube zur reinen Privatsache, zum Teil der Intimsphäre
wird, verändert sich der einzelne, er verliert die Fähigkeit, das
christliche Charisma mitzuteilen. Eine Versammlung von Christen ist nie
die Summe der einzelnen dort Anwesenden, sie ist immer die Summe der
Anwesenden plus Christus. „Seid gewiß, ich bin bei euch alle Tage" (Mt
28, 20), sagte Christus den Aposteln zum Abschied, und „wo zwei oder drei
in meinem Namen versammelt sind, da bin. ich mitten unter ihnen" (Mt 18,
20), sicherte er den Jüngern zu. „Da alle Gläubigen", so zitiert der
Katechismus der Katholischen Kirche den heiligen Thomas von Aquin,
„einen einzigen Leib bilden, wird das Gut des einen dem anderen
mitgeteilt. Somit muß man glauben, daß in der Kirche eine
Gütergemeinschaft besteht. Das Wichtigste unter allen Gliedern der Kirche
aber ist Christus, denn er ist das Haupt. Also wird das Gut Christi allen
Christen mitgeteilt, so wie die Kraft des Hauptes allen Gliedern, und
diese Mitteilung geschieht durch die Sakramente der Kirche" ('Thomas v.
A., symb. 10). „Die Einheit des Geistes, durch den die Kirche geleitet
wird, bewirkt", so das nächste Zitat, „daß das, was sie empfangen hat,
allen gemeinsam ist" (Catech. R. 1, 10, 24).
Der Katechismus der Katholischen Kirche spricht
damit von der Verbundenheit aller Christen, die nicht in gleicher Rasse,
politisch-kultureller Gesinnung oder Erziehung besteht, sondern in der
Gnade, die Christus seiner Kirche mitteilt. Durch die Taufe wird jeder
Christ Teil des Leibes Christi und Empfänger der Gaben des Heiligen
Geistes. „Durch den einen Geist wurden wir in der Taufe alle in einen
einzigen Leib aufgenommen, Juden und Griechen, Sklaven und Freie; und alle
wurden wir mit dem einen Geist getränkt", schrieb Paulus an die Korinther.
Dieses Durchtränktsein mit dem einen Geist bewirkt auch jene Veränderung,
die jeder Gläubige erfährt, wenn er die Gegenwart Christi in der Kirche
ernsthaft anerkennt, wenn er zwar in, aber nicht mehr von dieser Welt ist,
das heißt die Maßstäbe seines Handelns wechselt. Wer es ernst meint, wird
Teil jener „Gemeinschaft der Heiligen", des Leibes Jesu Christi, der
innerhalb der Geschichte fortbesteht und alle, die an Christus glauben,
einlädt, die Wirksamkeit der heilswirkenden Gnade Gottes
zu
erfahren.
Damit das aber in der Welt seinen sichtbaren und objektiven
Ausdruck findet, kommen die Getauften am ersten Tag der Woche (dem Tag der
Auferstehung Christi) zusammen, um den Neuen Bund mit Gott und die
Gemeinschaft mit Jesus Christus zu feiern. Deswegen ist der Besuch der
Sonntagsmesse ein Kirchengebot. Hätte dieser gemeinschaftliche Akt keinen
verpflichtenden Charakter, würde der sichtbarste Ausdruck der Einheit des
Leibes Christi der Beliebigkeit verfallen. „Die Kirche ist das Volk, das
Gott
in
der ganzen Welt versammelt", heißt es im Katechismus der
Katholischen Kirche. „Sie besteht in den Ortsgemeinden und
verwirklicht sich als liturgische, vor allem als eucharistische
Versammlung. Sie lebt aus dem Wort und dem Leib Christi und wird dadurch
selbst Leib Christi". Hier liegt der Sinn der sonntäglichen Gottesdienste.
Und nur deswegen ist es zu verstehen, daß jemand mit Freude zur Messe
geht. Er weiß, daß er dieser „Gemeinschaft der Heiligen", diesem Leib
Christi immer mehr zugehört, daß er mehr und mehr in die Kirche
hineinwächst, nicht in eine Institution, sondern in das mit Jesus
Christus als Haupt durch die Geschichte ziehende Volk Gottes.
(aus: François Reckinger, Gott begegnen in der Zeit. Unser
Kirchenjahr, Verlag Bonifatius-Druckerei, Paderborn, 1986)
Es ist der Religion Jesu Christi von Anfang an eigen, daß
sie sich nur in der Gemeinschaft leben läßt. „Sie hielten an der Lehre der
Apostel fest und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und den
Gebeten", heißt es von den ersten Christen Jerusalems in der
Apostelgeschichte (2, 42). Wird an dieser Stelle kein besonderer Tag
hervorgehoben, so berichtet dieselbe Schrift (20, 7-11) von einer
Eucharistiefeier „am ersten
Wochentag" in Troas, bei der Paulus den Vorsitz führte. Um
das Jahr 100 heißt es dann in der sogenannten „Didache": „Am Herrentag
kommt zusammen, brecht das Brot und sprecht das Eucharistiegebet"; etwa
fünfzig Jahre später bezeugt der Philosoph Justin: „An dem Tag, den man
Tag der Sonne nennt, findet eine Versammlung aller statt, die in Stadt und
Land weilen." |
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