Deutschland leidet unter einer doppelten Kinderarmut: es gibt zu wenige
Kinder, und diese wenigen Kinder sind zu arm. Jürgen Borchert,
Familienrichter am Hessischen Landessozialgericht und Berater des
Deutschen Bundestags, spart auch bei Vorträgen in Graz und Wien nicht mit
Kritik an der deutschen Familien- und Steuerpolitik. Und er kann seine
Vorwürfe gut belegen: Binnen eines Jahrzehnts - von 1965 bis 1975 - fiel
die Geburtenrate in Deutschland von 2,4 auf 1,35 Kinder pro Frau.
Dramatisch ist der Blick auf die aktuelle Situation: Wurden 1965 noch
1,325 Millionen Kinder geboren, waren es im Jahr 2005 einer aktuellen
Prognose zufolge nur noch 676 000. Bei den 1965 Geborenen liegt der Anteil
der lebenslang Kinderlosen bei dreißig Prozent - ein trauriger Weltrekord.
Die Konsequenzen sind: Deutschland ist das am schnellsten alternde Land
der Welt. Nur wegen der vergleichsweise hohen Immigration steht
Deutschland im Ältestenvergleich der Nationen noch nicht auf Platz Eins,
sondern auf Platz Zwei.
Dazu kommt: Kein anderes Industrieland weist eine so hohe und so schnell
wachsende Quote von Kindern in relativer Armut auf. Bezog 1965 nur jedes
75. Kind unter sieben Jahren Sozialhilfe, so war 2004 bereits jedes siebte
Kind Sozialhilfeempfänger. Borchert bekannte sich am Montag bei einem
Vortrag in Graz dazu, ein "Nestbeschmutzer" zu sein: "Aber was ich in
Deutschland da beschmutze, ist ein klassisches Kuckucksnest!" Die
Halbierung der Geburtenziffer seit 1965 habe einen Prozess ausgelöst, der
irreversibel sei. Mittlerweile dämmere auch der Wirtschaft, dass die
Millionen Kinder, die seit 1965 nicht geboren wurden, heute fehlen.
Und die Vorstellung, man könne sich am internationalen
"Humankapital-Markt" einfach bedienen - etwa durch deutsche Greencards für
gutausgebildete Inder - habe sich bereits als Irrtum erwiesen. Deutschland
sei für Höchstqualifizierte aus den Schwellenländern längst nicht mehr
attraktiv. Im Gegenteil: Jeder siebte deutsche Akademiker verlasse bereits
heute sein Heimatland. Auf der Suche nach den Gründen der Kinderlosigkeit
räumt Borchert mit den klassischen Vorurteilen auf:
Die Steigerung der Müttererwerbsquote habe die soziale Deklassierung der
Familie nicht stoppen können. Deutsche Elternpaare seien im Durchschnitt
siebzig Wochenstunden erwerbstätig, also länger als im vielpropagierten
Vorzeigeland Schweden, wo der Vollzeiterwerb 32 Wochenarbeitsstunden
bedeutet. Während die Kinderzahl sank, stieg von 1960 bis 2000 in
Deutschland die Müttererwerbsquote um knapp sechzig Prozent. "Die
Behauptung, die deutschen Mütter seien zu faul, macht die Opfer zu
Tätern", sagt Borchert gegen die Ideologen einer weiteren Steigerung der
Frauenerwerbsquote.
Auch die Betreuungsdebatte sei oberflächlich und gehe an den eigentlichen
Fragen vorbei. Innerhalb Deutschlands seien die Geburtenraten dort am
höchsten, wo es die geringste Dichte an Kinderkrippen gibt, in Bayern,
Baden-Württemberg und Niedersachsen. Die fünf neuen Bundesländer dagegen
halten zwei Weltrekorde: Sie besitzen die höchste Dichte an
Kinderbetreuungsplätzen und zugleich die niedrigste Geburtenrate.
Borcherts Resümee: "Die ganze Vereinbarkeitsdebatte in Deutschland ist von
A bis Z verlogen."
Die Ursache für die wachsende doppelte Kinderarmut sieht Borchert in der
Schieflage zwischen privaten Kinderkosten und sozialisierten Alterslasten.
In diesem System sei der Single von vornherein im Vorteil. "Der Single
zehrt parasitär von den Kinderreichen." Die Gesamteinnahmen der
öffentlichen Hände in Deutschland, so rechnet der Richter vor, bestünden
zu 43 Prozent aus Sozialversicherungsbeiträgen, die keinerlei
Kinderkomponente kennen. Weitere 28 Prozent kommen aus Verbrauchssteuern,
die Familien ebenso überproportional belasten. Eine Durchschnittsfamilie
mit zwei Kindern falle deshalb bereits heute unter das Existenzminimum.
Durch die bevorstehende Erhöhung der Mehrwertsteuer um drei Prozent werde
eine Familie mit drei Kindern gegenüber einem Single-Haushalt neuerlich um
tausend Euro zurückfallen. "Rabenvater Staat" schaffe also die Probleme
selbst, indem er Familien künstlich zu Almosen-Empfängern mache. Das
Kindergeld sei in diesem Kontext "zu drei Viertel nur die Rückgabe von
Diebesgut", weil der Staat nur zurückgebe, was er zuvor verfassungswidrig
am Existenzminimum der Kinder besteuerte. Zu achtzig bis 85 Prozent würden
die riesigen Umverteilungsmengen von den Familien selbst finanziert.
Borchert plädiert, wie er im Gespräch mit dieser Zeitung klarstellt, nicht
für ein Erziehungseinkommen. Er meint, dass die Korrektur bei der
Einkommensteuer ansetzen muss, etwa durch die Einführung eines
Familiensplittings nach französischem Modell. In Frankreich werden die
Kinder bei der Berechnung der Steuerlast einer Familie voll angerechnet,
was den praktischen Effekt hat, dass Normalverdiener mit drei Kindern
steuerfrei ausgehen. Borchert fordert darüber hinaus die Abkoppelung der
Sozialversicherung von den Löhnen.
Aber auch der Sprachverwirrung möchte der hessische Richter
entgegentreten: Das Rentensystem habe durch die falsche Verwendung des
Wortes "Versicherung" die Illusion geschaffen, jeder sichere mit seinen
eigenen Beiträgen seine Zukunft im Alter. Damit seien die
Grundzusammenhänge des Lebens und die existenzielle Abhängigkeit von der
Generation der Kinder verloren gegangen.
Zu Bismarcks Zeiten, als die durchschnittliche Lebenserwartung bei 45
Jahren lag und das Renteneintrittsalter mit siebzig Jahren festgesetzt
wurde, sei eine Renten- "Versicherung" möglich gewesen. Bei der heutigen
Lebenserwartung von knapp achtzig Jahren und einem faktischen
Renteneintrittsalter von 63 Jahren sei sie unmöglich. "Der Normalfall ist
immer unversicherbar", sagt Borchert. Seine Konsequenz lautet: Die
kinderlosen Senioren seien aus der leistungsbezogenen Alterssicherung zu
entlassen.
(DT vom 16.03.2006
Autor: VON STEPHAN BAIER )