Was Christen von Atheisten lernen können und was wir ihnen dann schuldig sind.
Frohe Weihnachten, Ihr Atheisten
Von Manfred Lütz
Ein Beitrag
zur Atheismus-Debatte
der „Tagespost“ (Teil IV).
Die Christen haben zum Atheismus ein merkwürdiges Verhältnis. Die ersten
christlichen Theologen brachen mit der religiösen Tradition der Antike und all
den abstrusen Göttergeschichten. Sie sahen ihre geistigen Vorfahren in
Philosophen, die als Atheisten verschrien waren. So schätzten sie den Sokrates,
der wegen jugendgefährdendem Atheismus zum Giftbecher verurteilt worden war. Und
auch Jesus selbst liegt im Dauerstreit mit den Frommen. Als die ihm die alles
entscheidende Frage stellen, wie man denn in den Himmel kommen könne, ist seine
Antwort eine einzige Provokation. Er sagt nicht, dass man dazu fromm sein muss,
noch nicht einmal rechtgläubig, schlimmer noch: Jesus erzählt die Geschichte vom
barmherzigen Samariter.
Geschichten wie diese haben Jesus ans Kreuz gebracht
Diese berühmte, von Jesus als Bildrede erfundene Geschichte, die zum Fundament
der europäischen Kultur gehört, ist schnell erzählt: Auf der Straße von
Jerusalem nach Jericho liegt ein verletzter Mann, von Wegelagerern ausgeraubt,
im Staub. Ein frommer Priester kommt des Wegs und – geht vorbei. Ein
geschäftiger Tempeldiener kommt vorbei und – lässt ihn liegen. Und dann nähert
sich ein Samariter. Die Samariter galten den Juden wie Atheisten. Sie kamen aus
einem Landstrich, wo die Leute den Tempel nicht besuchten. Doch dieser Mann hält
an, ihn ergreift schlicht menschliches Mitleid, er verbindet dem Verletzten die
Wunden, bringt ihn in die nächste Raststätte und lässt dem Wirt für den ihm ganz
unbekannten Mitmenschen noch Geld für die Pflege da.
Es sind solche Geschichten, die Jesus ans Kreuz gebracht haben. Denn er sagt
klar: Dieser Samariter, der noch nicht einmal die Bibel kennt, aber
uneigennützig handelt, kommt in den Himmel – obwohl gar nicht sicher ist, ob der
Samariter überhaupt an den Himmel glaubt.
Auch in Deutschlands Osten besuchen die wenigsten Leute die Kirchen, kennen die
meisten die Bibel nicht und glauben nicht an den Himmel. Gerade in diesem
Landstrich habe ich in den vergangenen Wochen bei Atheisten eine berührende
Mitmenschlichkeit erlebt und echte interessierte Fragen nach der Existenz Gottes.
Ich schäme mich dann manchmal ein wenig, diese Fragen zu beantworten, weil der
Eindruck entstehen könnte, ich bildete mir ein, als Christ ein besserer Mensch
zu sein. Dabei unterlaufen mir selbst ja immer wieder skandalöse Situationen wie
dem Priester und dem Tempeldiener auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho. Soll
man daher nicht am besten auf Mission ganz verzichten? Soll man nicht die
liebenswürdigen östlichen Samariter Samariter sein lassen? Es gibt manche
weichgespülte Theologen und müde gewordene Christen, die diese Auffassung
vertreten. Ich finde diese Meinung arrogant.
Wenn ich persönlich erlebe, dass der christliche Glaube eine Freude gibt, die
mein Leben über alle düsteren Phasen hinwegträgt. Wenn ich aus der Überzeugung
heraus leben kann, dass Mitmenschlichkeit nicht bloß aus hormonell gesteuerten
und evolutionär nützlichen Hirnreflexen in einem sinnlosen und gleichgültigen
Weltall besteht, sondern wenn ich Mitmenschlichkeit und Liebe als unmittelbar
sinnvoll erleben kann in einer sinnvollen Schöpfung, die in den Händen eines
liebenden Gottes ruht, dann schenkt mir das ein Glück, das ich doch anderen
Menschen weitergeben muss, wenn ich nicht unglaublich herzlos bin. Mission hat
also nichts damit zu tun, die Zahl der Vereinsmitglieder mit geschickter
Mitgliederwerbung hochzutreiben. Mission resultiert aus dem Respekt eines
Christen seinen Mitmenschen gegenüber. In der Bibel heißt es, dass der Christ
jedem Mitmenschen gegenüber Rechenschaft abzulegen hat über seinen Glauben. Das
muss heute natürlich auf dem neuesten Stand der Wissenschaft geschehen. Glaube
ist nicht nur eine Sache des Gefühls, sondern auch der Vernunft. Es wäre
jedenfalls arrogant, aus Bequemlichkeit einfach anderen vom Glück des Glaubens
nichts mitzuteilen.
Gottesbeweise sind wie Liebesbeweise
Beim Weltjugendtag in Köln waren indonesische Mädchen in Düsseldorf im
Rotlichtviertel untergebracht. Wenn sie abends von den gottesdienstlichen
Begegnungen zurückkehrten, kamen sie immer an einer Prostituierten vorbei, der
sie begeistert von ihren Erlebnissen bei diesem internationalen Christentreffen
erzählten. Am letzten Tag aber fingen sie plötzlich hemmungslos zu weinen an.
Die Prostituierte fragte, was denn los sei und da sagten sie, sie seien so
traurig, dass sie, die Prostituierte, diese Freude des christlichen Glaubens
nicht erleben könne. Wir wissen diese Geschichte nicht von den Indonesierinnen,
die waren in ihre ferne Heimat zurückgekehrt, wir wissen sie von der
Prostituierten, die wenig später bei einem Priester anrief und fragte, wie man
Christin werden könne. Es sei das erste Mal in ihrem Leben gewesen, dass
Menschen ihretwegen geweint hätten.
Das Christentum glaubt daran, dass Gott Mensch geworden ist: in Jesus von
Nazareth. Und der hat gesagt, dass man in jedem Menschen Gott begegnen kann. Für
den humanistischen Atheisten mag das nicht weit von seiner Überzeugung entfernt
sein. Doch ist die Zusage Gottes, dass er selbst alle Menschen zum Glück führen
will, etwas anderes, als in einer sinnlosen Welt unbeirrt Sinnvolles zu tun. Auf
diese Zusage Gottes vertrauen zu können, heißt glauben. Das ist viel mehr als
bloß Wissen. Wenn Ihre Frau Ihnen sagt, Sie könnten ihr vertrauen und Sie
antworten, Sie würden aber gerne genau wissen, ob das Vertrauen gerechtfertigt
sei, dann werden Sie nichts zu wissen bekommen und das Vertrauen und die Liebe
zerstören. Denn Sie haben nicht gemerkt, dass Vertrauen viel mehr ist als Wissen.
Es ist eine Gewissheit, die wie die Glaubensgewissheit ein Leben trägt. Und so
sind Gottesbeweise wie Liebesbeweise: Sie sind nicht zwingend, aber es sind die
wichtigsten Beweise unseres Lebens. Wie aber die Liebe nach christlicher
Überzeugung auf die Verbindlichkeit der Ehe ausgerichtet ist, so der Glaube auf
die Verbindlichkeit der Kirche. Es ist nicht gleichgültig, ob man getauft ist
oder nicht.
Weihnachten ist die Feier der Mensch-Werdung Gottes. Ich werde an Weihnachten
voller Respekt an die vielen Samariter im Osten unseres Landes denken. Ohne an
ein Leben über den Tod hinaus zu glauben, leben sie uneigennützig und ehren
dadurch, dass sie ihrem Gewissen folgen, in dem der Ruf Gottes an sie ergeht,
Gott besser, als ich selbst es oft tue, wenn ich gedankenlos so lebe, als gäbe
es Gott nicht. Papst Benedikt XVI. hat in seinem ersten Lehrschreiben unter dem
Titel „Gott ist die Liebe“, das eine für jeden verständliche Einführung ins
Christentum ist, den barmherzigen Samariter ganz in den Mittelpunkt gestellt.
Vielleicht können unsere atheistischen Mitbürger uns Katholiken in Deutschland
den Text des Papstes besser verständlich machen, und vielleicht können wir ihnen
dann, von ihnen so belehrt, unseren Glauben besser erklären, denn das sind wir
ihnen schuldig. Es wäre eine menschliche Katastrophe, wenn nur der kalte
Kapitalismus des Westens nach Osten vordringen würde und nicht auch eine Ahnung
von der wärmenden christlichen Seele Europas. Also dann Ihr Atheisten: Frohe
Weihnachten.
Dr. Manfred Lütz ist Psychiater, Psychotherapeut und Theologe, Chefarzt eines
psychiatrischen Krankenhauses in Köln und Mitglied des Päpstlichen Rates für die
Laien. Soeben erschien sein Bestseller „Gott – Eine kleine Geschichte des
Größten“ (Pattloch). Dieser Artikel wird zeitgleich in der sozialistischen
Tageszeitung „Neues Deutschland“ in Berlin veröffentlicht. Ein echter Dialog-Beitrag
also.