Erlebnisgesellschaft

Zum geruhsamen Sonntag eine Probelektuere aus einem lesenswerten Artikel.
http://www.fta.de/download/holthaus/Erlebnisgesellschaft.html
 

In einer Gesellschaft, in der keiner mehr hungern muß und viele mit 30 schon alles haben, was sie brauchen, entsteht heute ein verändertes Problembewußtsein. Nicht der alltägliche Kampf ums Überleben steht im Mittelpunkt, sondern das Recht auf Vergnügen. Die Hausfrau am Küchenherd fragt heute nicht mehr: werden wir heute etwas zu essen haben, sondern: was kochen wir denn heute? Wir haben mehr, als wir brauchen.

Erleben wird zur neuen Lebensaufgabe. Der Wandel von der Armuts- zur Wohlstandsgesellschaft brachte dieses völlig neue Lebenskonzept mit sich. Die außengeleitete Überlebensorientierung wird von der innengeleiteten Erlebnisorientierung abgelöst. Wir wissen heute nicht mehr, was Hunger heißt.  Deshalb müssen wir andere Bedürfnisse stillen, die in unserer Seele liegen. Nicht mehr die Versorgung ist unser Problem, sondern die Entsorgung.

Erlebnisse führen jedoch nie zu einer letzten Befriedigung. Jeder neue Designwandel muß mitgemacht werden, Programmänderungen sind unaufhaltsam. Innovationen werden aufgezwungen. Die Gier nach neuen Erlebnissen ist unstillbar. Ein Schlußverkauf jagt den nächsten. Ich darf nichts verpassen. Der Zapper am Fernsehen, der mit der Fernbedienung hin und her schaltet, ist Ausdruck der ständigen Angst, etwas zu verpassen.

Die Ungeduld der Erlebnisgesellschaft hat übrigens einen einfachen Grund, auf den uns ein in der Schweiz lebender Soziologe aufmerksam gemacht hat. Peter Gross aus St. Gallen konstatiert: die Menschen haben die Dimension der Ewigkeit verloren. Für eine christ liche Gesellschaft war die Ewigkeit das erhoffte Ziel im Jenseits, wo Glück und Zufriedenheit herrschen werden. Ich muß nicht alle Ziele hier auf Erden erreichen, denn das letzte Ziel liegt im Jenseits. Heute, wo man den Himmel abgeschafft hat, ist der Mensch gezwungen, alle seine Ziele in den paar Jahren hier auf der Erde zu erreichen. Da die Welt sich um mich dreht, wird der Zeitbegriff verändert. „Weltzeit schrumpft auf Lebenszeit zusammen. Zeit wird Frist.“ Ich brauche 99 Leben, um alles zu erreichen, was ich erreichen will.

Durch den neuen Wohlstand verschiebt sich die Wertebene von den Gebrauchs- hin zu den Genußwerten. Die Masse des Brauchbaren machte das Nützliche zur Nebensache. Wir geben heute nur noch 20% unseres Einkommens für Grundnahrungsmittel aus. Genießen ist angesagt. Man gönnt sich ja sonst nichts.

 

Spaß ist angesagt. In einer neuen Umfrage unter Jugendlichen mit der Fragestellung, was sie besonders mögen, gaben 99% an: Spaß haben. Warum fahren Hunderttausende nach Berlin zur Love-Parade, um eine Wochenend-Techno-Party zu feiern. Das Motto des ganzen hieß: Friede, Freude, Eierkuchen. Es ging nicht um Atomkraft, Bosnien oder Mittelstreckenraketen. Einfach fun haben, heißt die Devise.  Die Post muß abgehen. Leichtigkeit ist angesagt. 43% aller Jugendlichen bezeichnen sich als völlig unpolitisch. Man ist weder rechts noch links, sondern lustig. Das Motto der Raver: wir wollen nur Spaß haben. Raven heißt toben, und so tobt man sich aus.Interessant ist auch zu beobachten, wie die Wissensebene Veränderungen unterworfen ist. Wir haben heute eine unüberschaubare Datenmenge von Wissen zur Verfügung. Der Computer hat das Wissensfeld weiter revolutioniert. Das Internet tut ein übriges. Wissen liegt für jedermann auf der Straße. Andererseits hat das Allgemeinwissen bedrohlich abgenommen. Wissen ist explodiert, gemeinsames Wissen implodiert. Es gibt kaum noch gemeinsame Wissensebenen. Daher kommt es, daß sich die modernen Menschen nicht mehr verstehen. Man redet und lebt aneinander vorbei, wenn man keine gemeinsamen Wissens- und Komminikationsebenen mehr hat.

Vor allen Dingen sind die künstlichen Glückserlebnisse nur Nebenprodukte des Lebens. Die Plastikwelt der Moderne, in der wir uns alle mit Computer und Chipkarten fortbewegen, führt auf ihrer Rückseite zu einer Sehnsucht nach Echtheit und Authentizität. Wir zweifeln angesichts der künstlichen Welten an der Wirklichkeit. Wer sind wir eigentlich? Was sind unsere wirklichen Bedürfnisse? Man verliert auch in einer zeitlosen Gegenwart das Gefühl für die Zeit und die Gegenwart.  Die Künstlichkeit unserer Wahrnehmung macht unsicher. So flieht man in den „Authentic-Mythos“, das „große Heimweh“ ist angesagt, laßt uns Nostalgieparties feiern. In der Spielzeugbranche kommen wieder die alten Brettspiele auf.  Holzpuppen contra Gameboy. Das Echte ist das Wahre in uns, das Substantielle, unwandelbare, glaubwürdige. Aus diesem Grund sind die alten Hausrezepte wieder in. Werte wie „handgemacht“, „aus eigenem Anbau“ usw. geben dem verlorenen Menschen wieder scheinbaren Halt und Sicherheit. Wir kommen aus der Überfluß- in die Überdrußgesellschaft, wo andere Werte zählen.

Der moderne Mensch ist wie ein offener Kanal, durch den alle Neuigkeiten hindurchfließen müssen. Ruhelos pulsierend kommt nie die Befriedigung. Wir sind abhängig geworden von pausenlosen Erlebnissen, totale Innenorientierung führt zu sozialen Abkapslungen und zu einer gefährlichen Passivität. Der moderne Mensch meint, nichts sei ihm unmöglich, er müsse seine Träume nur noch in die Wirklichkeit umsetzen. Er sucht nach Sinn und erlebt doch nur dauernde Sinndefizite.

Wer erkennt sich wieder in diesem Spiegel?